unangepasst mit würdeverletzenden Vergangenheitserfahrungen und demokratischen Notwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft umzugehen weiß.
Vergleichbar Kathartisches geschieht in Rezeptionsprozessen, die sich mit Kunstwerken bzw. Literatur auseinandersetzen. Fiktionale Narrative regen Kreativität an, weil sie ein Gefühl für Kontinuität und Ganzheit erzeugen und zugleich – und dies gilt für die Romane des Viktorianischen Zeitalters wie auch für Werke der klassischen Moderne – ein Gefühl riskierter Ganzheit entstehen lassen. Moderne Romane spenden keinen Trost. Vor dem Hintergrund einer reflexiven Moderne evozieren sie beunruhigende Fragen, die an Erinnerungen des Vertrauens- und Autoritätsverlusts, an Krisen, Hunger und Kälte, Verlorenheit, Heimatlosigkeit und menschliche Mortalität rühren. Mit diesen ästhetischen Erfahrungen setzen die Rezipient/innen des dritten Lebensalters ihr Selbst- und Weltverständnis aufs Spiel setzen und initiieren komplexe Diskurse.
1.4 Transitorische Identität und die Bedeutung literarischer Texte in der ersten und zweiten Phase der Modernisierung
Am Beispiel moderner Romane können Rezipient/innen des dritten Lebensalters erforschen, wie diese Leben und Kultur ihrer Zeit narrativ verdichtet konfrontieren. In der Interaktion mit den Texten und ihren komplexen emotionalen Situationen, deren Grundstruktur oben dargelegt wurde, können sie über erschließendes Lesen zunächst eigene Deutungen entwerfen und über die reflektierende Lektüre das ästhetische Fremde so refigurieren, dass die Epoche, in der die literarischen Texte als ihr ästhetisch Fremdes gestaltet wurden, nicht auf Bekanntes und Gegenwärtiges reduziert werden. In dieser rezeptionsästhetischen Situation schwingen kultursemiotisch persönliches und kulturelles Gedächtnis zusammen und gegeneinander; die Subjektivität der Rezipient/innen wird transzendiert.1 Dabei erproben und besprechen sie, wie man im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Erzählwelten eine eigene Sprache für Verluste und Leid gegen das delegierte Schweigen der Eltern finden und narrativ Möglichkeiten individueller Mündigkeit in angstfreier Nähe mit anderen riskieren kann.2
Bürgerliche Romane wirkten seit dem 18. Jahrhundert kathartisch. Sie lösten Gefühlsstürme aus und forderten zeitgenössische Moralvorstellungen heraus, weil sie ästhetisch verfremdet das bürgerliche Selbst in seiner Widersprüchlichkeit, Bedürftigkeit, Habgier und Ganzheitssehnsucht bloßstellten. Franco Moretti hebt die heterogenen Eigenschaften des europäischen Bürgertums hervor, die seit dem 18. Jahrhundert die Koexistenz gegensätzlicher Wertvorstellungen ermöglichten und die Entschlusskraft des Bürgertums mit einem Unbehagen an der Gesellschaft verbanden. Diese für die Mittelschicht typische Selbstwidersprüchlichkeit, die Kompromisse zwischen unterschiedlichen ideologischen Systemen bilden konnte,3 enthielt durch „selbstauferlegte Blindheit“, insbesondere der Viktorianer,4 Tendenzen zur Selbstverschleierung, die von den Romanen der Viktorianischen Zeit in den unterschiedlichen Varianten, wie sie beispielsweise Charles Dickens, Elizabeth Gaskell oder die Brontës vorlegten, gegen gesellschaftliches Nützlichkeitsdenken, thematisiert wurden.
Da die Begriffe Moderne, Modernismus und Postmoderne weder als Ideologien, noch als rivalisierende Ästhetiken angemessen zu verstehen sind – „‘modernity‘ is an imprecise and contested term“5 –, eher als „sozio-linguistische Situationen“, im Rahmen „gesellschaftliche(r) und historische(r) Problematiken“6, lassen sich moderne Romane als ästhetisch Fremdes ihrer Kultur und als offen-komplexe narrative Strukturen verstehen und nicht auf begriffliche Aussagen reduzieren. Ihre Vieldeutigkeit macht ihren ästhetischen Charakter aus. Moderne Romane konfrontieren die instrumentelle Vernunft ihrer Zeit mit narrativen Unschärferelationen, in der die Negativität der Weltungesichertheit mit der Haltlosigkeit des Subjekts zu einer Metaphysik des Schwebens verknüpft ist. Mit Joshua Kavaloskis Forschungen zur klassischen Moderne kann man sagen: „In the nineteenth century, art’s primary function was presumably the portrayal of bourgeois self-understanding and thus it gradually evolved into a cultural form without a utilitarian role in society.“7
Einem Vorschlag Peter V. Zimas folgend, lässt sich die Metaphysik des Schwebens moderner Literatur und Romane kulturkritisch als Entwicklung „von der Ambiguität zur Ambivalenz und von der Ambivalenz zur Indifferenz“8 deuten.
Die Ambiguität literarischer Texte verortet Zima im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Romane Jane Austens und die Balzacs vermochten, so Zima, „den wahren Charakter ihrer oft zweideutigen Gestalten (…) und mit Hegel das Wesen hinter den Erscheinungen (aufzudecken)“.9 Dass dies nicht für Dickens‘ Romane, auch nicht für Oliver Twist (1837) gilt – in Dickens‘ Romanen liegt das zentrale Problem in der Erforschung der Haltlosigkeit des modernen Subjekts, die den Warenwert der Menschen in Frage stellt – soll im dritten Teil gezeigt werden.
Die Ambivalenz literarischer Texte – Ambivalenz, verstanden als Zusammenführung unvereinbarer Gegensätze oder Werte, ohne Synthese10 – sieht Zima im Zusammenhang von Friedrich Nietzsches Philosophie, Sigmund Freuds psychoanalytischen Forschungen und Karl Marx‘ Frühschriften. Der Ambivalenz liegt, so Zima, der Gedanke der Vertauschbarkeit z.B. von Herr und Knecht, Gott und Teufel, Mensch und Ding zugrunde. Michail Bachtins Verdienst sei es gewesen, Ambivalenz mit dem Zusammenbruch der Hierarchien und der Umwertung der Werte als Karnevalsgeschehen sowohl in der älteren, wie auch in der modernen Literatur verknüpft zu haben.11 Der moderne Roman, so folgert Zima, „(…) könnte als ein Text gelesen werden, in dem Nietzsches und Freuds Erkenntnisse über die Verknüpfung unvereinbarer Werte und das Zusammenwirken einander entgegengesetzter Regungen gebündelt und ins Fiktionale projiziert werden.“12
Subjektivität als Gestaltungsprinzip moderner Romane impliziert eine Abwendung von instrumenteller Vernunft und kalkulierendem Bewusstsein, so dass das Unterbewusstsein zum Impulsgeber der Romane wird und die Macht des Begehrens in narrativen Gestalten des Bösen Tendenzen zu Destruktion und Selbstzerstörung zeitigt.13 Ambivalenz als Mehrdeutigkeit der Moderne (Zygmunt Bauman) wird mit ihren divergierenden Deutungsmöglichkeiten zum Strukturprinzip moderner Romane.
Romane des Viktorianischen Zeitalters, die die Ambivalenz als Paradoxie des poetischen Realismus gestalten und Romane des frühen 20. Jahrhunderts gehen, wie im dritten Teil zu zeigen ist, noch einen Schritt über das Paradigma der Ambivalenz, das sie gleichwohl auch zum Ausdruck bringen, hinaus: Die in kulturell sanktionierten Gegensätzen ästhetisch gestaltete Vertauschbarkeit zielt auf ihre Ähnlichkeit und damit auf „Vertauschbarkeit als Indifferenz“14, wobei sich in Dickens‘ Roman Oliver Twist und in Charlotte Brontës Roman Jane Eyre das Verhältnis von Subjektivität und Negation, von Mehrdeutigkeit subjektiver Weltbezüge und deren Undurchschaubarkeit, in einer Haltlosigkeit des Ichs zum Ausdruck bringt, die nicht selbstzerstörerisch angelegt ist, sondern trotz resignativer Tendenzen, Chancen zulassen, privates Glück erlangen zu können. Die Wunschvorstellung bleibt leitend, „daß der Mensch auf Erfüllung angelegt ist (…)“.15 In Emily Brontës Roman Wuthering Heights hingegen verdichtet sich unstillbares Begehren als Energie des Negativen, bzw. Destruktiven, für das es keine Erlösung gibt. In Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway schließlich wird die Metaphysik des Schwebens in einer Multiperspektivität gestaltet, die die Ambivalenz von Leben (Clarissa Dalloway) und Tod (Septimus Warren Smith) in der Haltlosigkeit moderner Subjektivität zum Ausdruck bringt, vor dem Hintergrund der Folgen des Ersten Weltkrieges, der Europa in einen Sog von Gewalt und Zerstörung hineinzog. Die im dritten Teil vorgestellten Romane enthalten in der Transzendierung des Gegebenen und Positiven metaphysische Reste der Moderne16 als Metaphysik des Schwebens, in der sich Schein und Sein, Anschauung und Reflexion verbinden.
In Dickens‘ frühem Roman Oliver Twist bestehen metaphysische Reste der Moderne in der gegenläufigen, quasi schicksalhaften Handlungsführung und einer narrativ zwar vorbereiteten, dann aber im Sprung herbeigeführten märchenanalogen, schicksalsähnlichen Problemlösung, die die erzählerische Ordnung auf ihre Kontingenzen hin autoreferenziell aufleuchten lässt.
In Charlotte Brontës Roman Jane Eyre sind überirdische Klänge und Stimmen, für die Jane empfänglich ist, ihre Androgynität, und, im letzten Drittel des Romans, die Natur als schützende Gottheit, sowie Janes persönliches Gottesverhältnis, das sie in eine wirksame Kontrolle sich selbst und ihrem Alter-Ego Rochester gegenüber umsetzt, sowie das Echo einer Absolution,17 das St John Rivers in den