kommen in Folge der radikalen Absage des Romans an religiöse Erlösungsgewissheiten, eine konventionsüberschreitende Liebesbeziehung zwischen Catherine und Heathcliff (sofern man von einer Beziehung im konventionellen Sinne sprechen kann), eine unbezähmbare innere und äußere Natur, die zur Quelle von Vitalität und Transzendenz wird, eine dezentrierte narrative Struktur, die diese Transzendenz hervorbingt und in einen überpersönlichen Bereich der Mythologie oder des Todes überführt,18 als metaphysischen Reste der Moderne ins Spiel.
In Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway wird die Metaphysik des Schwebens in der Harmonie der Gegensätze – ein Erbe der europäischen Romantik19 – gestaltet. Der Roman bringt die Verwandschaft der Gegensätze als immanente Transzendenz20 erzähldynamisch zum Ausdruck, ohne sie zur Synthese zu führen.
Sieht man mit Georg Bollenbeck Kulturkritik als normativ aufgeladenen „Reflexionsmodus der Moderne“, der „(…) bestimmte Haltungen und Denkmuster (hervorruft), die nicht Wissen sind, sondern (…) die Verarbeitung und Produktion von Wissen ermöglichen (…)“21, dann antizipiert die Ambivalenzstruktur moderner Romane transitorische Identitätserfahrungen, die seit der Epoche der Revolutionen zwischen 1790 und 188022 moderne Subjektivitätserfahrungen bestimmen. In die Romane gehen kulturkritische Vorstellungen ein, für die „etwa zwischen 1760 und 1800“23 in Großbritannien Grundlagen geschaffen werden, die ab 1780 „ihren Ausdruck in der Lyrik, im Versdrama, aber auch im Roman finden“.24 An dieser historischen Epochenschwelle, die am Ende des 18. Jahrhunderts beginnt und sich während des 19. Jahrhunderts entfaltet,25 in der „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur Grunderfahrung aller Geschichte“ wurde,26 entwickelt sich die moderne bürgerliche Gesellschaft. Diese erste bürgerliche Moderne ist gekennzeichnet durch den „Antagonismus zwischen Rationalismus und Ästhetik“.27 Die bürgerliche Kunst entwickelte einen eigenen Autonomieanspruch, der sich am „Regelbruch“ orientiert und auf Gestaltung des „überraschend() Neuen“ setzt.28
In Literatur, Musik, Bildender Kunst und im Theater entsteht ein ästhetischer Reflexionsmodus, der „Gewinne und Verluste der Moderne“29 ästhetisch transformiert und in der Sensibilisierung für diese Transformationsprozesse kulturkritisch Verarbeitungsangebote macht. Im Verhältnis von Fiktion und geschichtlicher Wirklichkeit kommt dem Erzählen von Geschichten die antizipatorische Emphase zu, nicht „das, was geschehen ist und wie es sich zufällig traf“ historiografisch zu berichten, sondern das „was geschehen könnte“ begrifflos zu erzählen.30 Ästhetische Utopien bilden eine „ästhetische() Gegensphäre“31 zu gesellschaftlicher Rationalität und weisen voraus auf eine mögliche Vervollkomnung des Menschen. Das Feld des Ästhetischen wird zum anderen der Moderne und des rationalisierten Sozialen, es konzentriert sich auf „individuelle(s), psychisch-leibliche(s) Erleben“.32
Während in der Zeit um 1800 in den wissenschaftlichen, religiösen, natur- und sozialwissenschaftlichen Diskursen Prägemuster der Identität und des Weiblichen aufgrund der Sinnkrise entfaltet werden, die aus der ökonomischen und politischen Entwicklung des Bürgertums resultiert, erfolgt konsequenterweise „deren eigentliche Differenzierung und Problematisierung (…) erst in literarischen Texten“.33 Differenziert und problematisiert wird das Männlichkeitsideal des Paternalismus, dem Autonomie, Gleichheitsdenken, gesellschaftliche und künstlerische Identität, ein proteisches Ich in Werken der Kunst entgegengesetzt werden. Autorschaft bedeutet für weibliche und männliche Schriftsteller/innen um 1800 Gleichberechtigung, Zeitgenossenschaft und Aufhebung erzwungener Passivität für Frauen.34
Diese Signaturen emanzipierter Autorschaft schlagen sich in der Gestaltung künstlerischer Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, so bei Dickens, bei Charlotte und Emily Brontë und bei Virginia Woolf nieder. Peter Gay bezeichnet den Zeitraum der Ablösung der Künste vom Patronagesystem um 1800 als entscheidende Epoche, die die „cultural revolution“35 vorbereitet, die mit der Individualisierung der Künstler und ihrer Abhängigkeit von Marktmechanismen, neue Gestaltungsmittel hervorbringt. Die ästhetischen Revolution, die mit dem „epochale(n) Wandel“36 um 1800 beginnt, weist den Weg in die moderne Avantgardebewegung der Künste: Dickens, Charlotte und Emily Brontё werden zu erzählerischen Wegbereitern der Moderne.
In dieser Zeit entwickelt sich der industrielle Kapitalismus, der sich durch technische Beschleunigung und die Beschleunigung des sozialen Wandels auszeichnet. Verlässliche Traditionen und Werte verändern sich immer schneller, Gewissheiten und Verlässlichkeiten nehmen ab, Unsicherheiten nehmen zu, wie oben gezeigt, steigt die Wählbarkeit der Identitätsoptionen ebenso, wie das Kontingenzbewusstsein der Individuen und Potenziale einer flexiblen transitorischen Identität.
Die Moderne zwischen 1790 und 1880 ist eine Epoche der Revolutionen, die ein neues Zeitbewusstsein mit radikaler Öffnung auf Zukunft und das Gefühl hervorbringt ungleichzeitig mit der Vergangenheit zu leben.37 Diese „Kulturschwelle“38, die die persönliche Identitätsfrage nach dem Woher und Wohin des Subjekts und seiner erlebten Gegenwart evoziert, geht in die Romane Dickens‘ und die der Schwestern Brontë als erzählerisch gestaltete Subjektivitätserfahrung, als transitorische Identitätserfahrung ein. Moderne Identitätserfahrung, die in Werken der Literatur antizipiert wird,
(…) schließt begriffslogisch weder Ambivalenz noch Bewegung und Wandel aus, wenn er nicht den Zustand der Person, sondern die Aspiration, die der Bewegung durchaus widersprüchliche Richtungen gibt, bezeichnet.39
In England spricht man zu Beginn der Moderne von einer Epoche der Krisen (1760–1815) und in der Weiterentwicklung zwischen 1815 und 1880 von einer Epoche der Industrialisierung, der Demokratisierung, des sich entwickelnden Empire, zu denen die industrielle Revolution, die Erschließung der Weltmärkte, Aufstände in Irland, politische Reformen und politischer Radikalismus, der Krieg mit Frankreich, Urbanisierung, Massenarmut, als gewaltige gesellschaftliche und kulturelle Transformationen mit einem neuen bürgerlichen Geschichtsbewusstsein einhergingen, das in der englischen Romantik Kontur gewann. Es war eine Epoche, in der feudale, statische Ordnungen endgültig aufgelöst wurden, das gesellschaftliche Leben sich im Zeichen eines raschen Wandels vollzog und die Literatur „jene unübersehbaren Sinnverluste und sozialen Verwerfungen, die der Moderniserungsprozess (…) mit sich brachte, zu erkunden, mitzuteilen, zu kritisieren und mithilfe schöner Gegenbilder auszugleichen“40 versuchte.
Diese erste Modernisierungsphase wurde von einer von 1880 bis 1930 bestimmten Umbruchspahse abgelöst,41 die durch ein radikal verändertes Zeitbewusstsein, hohes Tempo, eine Zunahme der Massengesellschaft, den Verlust von Orientierung und Werten gekennzeichnet war. Ulrich Beck spricht von einer Zweiten Moderne, Peter Wagner von einer erweiterten liberalen Moderne, Wolfgang Welsch von einer postmodernen Moderne.42 Krisensymptome dieser Epoche sind vor allem, dass Errungenschaften der Aufklärung, wie Rationalität, Autonomie des Individuums, Fortschritts- und Glücksstreben, sowie politische Ordnung und marktwirtschaftliches Handeln verstärkt in Zweifel gezogen und zu Symptomen einer kulturellen Sinnkrise wurden, die nach Neuorientierung auf allen Gebieten suchte.43
Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden beispielsweise durch Freud, Nietzsche und Mach Werte und Überzeugungen, die im 19. Jahrhundert bereits brüchig geworden waren, radikal in Frage gestellt. Für den amerikanischen Schriftsteller Henry Adams wurden auf der Weltausstellung von 1900 Dynamos zur Offenbarung. Er sah in ihnen „ein Symbol für den fundamentalen Umbruch in der Gesellschaft und für die neue Zeit“.44 Bis ins alltägliche Leben und in die Ängste der Menschen hinein änderte sich alles. Diese Ängste als Kehrseite des hohen Tempos bestanden aus „(…) Angst vor der Degenerierung, Angst vor dem Niedergang, Angst, vom allgemeinen Fortschritt abgehängt zu werden, und Angst davor, was dieser Fortschritt bringen würde.“45
Das Janusgesicht der Moderne, das gleichzeitig in die Vergangenheit und Zukunft blickt, wurde vor dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien durch soziale und nationale Unruhen erfahrbar. Das Jahrhundert begann für Großbritannien mit dem Burenkrieg und dem Tod der Königin Victoria. Beide Ereignisse erschütterten das Empire. Dem Bürgertum „als neue(r) Herrscherklasse“46 fehlten Stabilität und Selbstbewusstsein einer langen Adelstradition. Die technische Beschleunigung vermittelte den Eindruck der Unkontrollierbarkeit; die Manufaktur wurde durch industrielle Produktion abgelöst. Es kam zu wachsenden Spannungen zwischen Arbeit und Kapital. Die irische Frage drohte sich zu