Susanne Becker

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus


Скачать книгу

stellen müssen. Doch auch selbstkritische Tendenzen werden laut, es regt sich das Bedürfnis nach einer Infragestellung der Ziele und Motive des Surrealismus. Breton macht deutlich, dass der Surrealismus sich noch in der Vorbereitungsphase befinde und dass die Entfaltung seiner Wirkung auf die Zukunft ausgerichtet sei. Seinen Kunstcharakter hat der Surrealismus komplett verloren, er sei, so Breton, weder Kunst noch Anti-Kunst, sondern er „plonge ses racines dans la vie“12. Ein wichtiges Projekt der Surrealisten bleibt weiterhin die Erkundung der verborgenen Bereiche der menschlichen Existenz und die Erforschung jenes „point de l’esprit d’où la vie et la mort, le réel et l’imaginaire, le passé et le futur, le communicable et l’incommunicable, le haut et le bas cessent d’être perçus contradictoirement.“13 Die Zusammensetzung der surrealistischen Gruppe änderte sich stets: manche Mitglieder gingen (wie Aragon, der mit der Gruppe brach, um sich der kommunistischen Sache zu widmen), andere kamen (wie Salvador Dalí, der den Surrealismus um weitere Techniken zur Erkundung des menschlichen Geistes bereicherte).

      Dass die revolutionäre Kraft ihren Zenit überschritten hat, wird deutlich, als die Zeitschrift Le Surréalisme au service de la Révolution im Jahr 1933 eingestellt wird. Spätestens anlässlich des „Congrès des écrivains pour la défense de la culture“ (1935 in Paris), an dem die Teilnahme der Surrealisten von den Kommunisten stark sabotiert wird – die Eindrücke des Kongresses wurden in Du temps que les surréalistes avaient raison (1935) verarbeitet –, spätestens da glauben die Surrealisten nicht mehr an eine Versöhnung surrealistischer und kommunistischer Intentionen.

      Die Konsekrierung des Surrealismus als künstlerische Bewegung nimmt somit ihren Lauf. Zahlreiche Surrealisten emigrieren in die USA, darunter auch Breton, der im Jahr 1940 nach New York geht. Nach dem Krieg hatten sich die Zeiten geändert, die Jugend hatte in Camus und Sartre, die sich im Krieg engagiert hatten, neue Helden gefunden. Überhaupt hatte der grausame Krieg die Wirkkraft des Surrealismus mit seinen unerfüllt gebliebenen Ambitionen in Frage gestellt. So ist der historische Surrealismus, der zwar erst im Jahr 1969 offiziell als beendet gilt, (spätestens) nach dem Krieg obsolet geworden. Er hatte sein Versprechen nicht halten können, „la transformation totale de la vie“14 war ausgeblieben, und trotz seiner anti-künstlerischen Haltung hatte er nur noch mehr Kunst produziert. Man muss wohl Jean Schuster zustimmen, wenn er in seinem Artikel Le quatrième chant in Le Monde vom 4. Oktober 1969 zwischen einem „surréalisme 'historique'“ und einem „surréalisme 'éternel'“ unterscheidet. Mit der Ikonizität seiner verbalen und graphischen Bilderwelt hat der Surrealismus als eines der „meilleurs produits d’exportation“15 Frankreichs die Sehgewohnheiten der Menschen grundlegend verändert und ist mit seiner traumhaften Bildsprache längst in das kollektive Bewusstsein der Massen getreten.

      Der Surrealismus sah sich demnach schon zu seinen Hochzeiten mit seinen eigenen Aporien konfrontiert. Musste man bei der Transformation des Lebens zuerst beim Individuum ansetzen oder bei der Gesellschaft? Konnte man das Leben von der Kunst her verändern oder war dies nur durch politisches Engagement möglich? Dieser im Surrealismus und in der Avantgarde im Großen angelegte Widerspruch manifestiert sich im Kleinen am Theater, das ja ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Kunst und Leben steht.

      3.2 Stellung des Theaters im Surrealismus

      Breton stand der Institution Theater aus mehreren Gründen skeptisch gegenüber: Theater war ein Zeichensystem und als solches nicht wahrhaftig, es war finanziellen Zwängen unterworfen, außerdem war es für Breton ein Ausdrucksmittel unter vielen und stand im Dienste eines erweiterten Poesiebegriffs, weshalb eine Beschäftigung mit Theater als Kunstform drohte, ins Ästhetizistische abzugleiten. In der Introduction au discours sur le peu de réalité (1924) erklärt Breton:

      Ô théâtre éternel, tu exiges que non seulement pour jouer le rôle d’un autre, mais encore pour dicter ce rôle, nous nous masquions à sa ressemblance, que la glace devant laquelle nous posons nous renvoie de nous une image étrangère. L’imagination a tous les pouvoirs, sauf celui de nous identifier en dépit de notre apparence à un personnage autre que nous-même. La spéculation littéraire est illicite dès qu’elle dresse en face d’un auteur des personnages auxquels il donne raison ou tort, après les avoir créés de toutes pièces. 'Parlez pour vous, lui dirai-je, parlez de vous, vous m’en apprendrez bien davantage. Je ne vous reconnais pas le droit de vie ou de mort sur de pseudo-êtres humains, sortis armés et désarmés de votre caprice. Bornez-vous à me laisser vos mémoires; livrez-moi les vrais noms, prouvez-moi que vous n’avez en rien disposé de vos héros.' Je n’aime pas qu’on tergiverse ni qu’on se cache.1

      Er kritisiert am Theater, dass die Akteure hier in eine andere Rolle schlüpften und nicht sich selbst spielten. Und auch der Autor komme am Theater nicht direkt zu Wort, sondern immer nur gefiltert durch seine Figuren. Breton sieht das von ihm geforderte unmittelbare Wirken des subjektiven Geistes am Theater kompromittiert: auf der Bühne, wo die physische Materialität eine große Rolle spielt und die psychische Kontrolle zu einem gewissen Grad an Regisseure und Schauspieler abgegeben werden muss, war der surrealistische „Cult of Self“2, der eine ungehemmte und unmittelbare Vermittlung subjektiver psychischer Erfahrungen erforderte, beeinträchtigt. Hier zeigt sich Bretons Ablehnung des Theaters als Zeichensystem, das einer Zeit-Ort-Figuren-Matrix gehorcht und in dem die Dinge immer auf etwas anderes verweisen als auf sich selbst. Ein solches Theater war für ihn nicht wahrhaftig, sondern reine Imitation und Blendung.

      Breton war der Institution Theater auch deshalb abgeneigt, weil sie finanziellen Zwängen ausgesetzt war. Im Second manifeste rechnet er diesbezüglich mit Artaud ab, der im Juni 1928 mit seinem „Théâtre Alfred Jarry“ Strindbergs Le Songe aufgeführt hatte. Die Aufführung wurde finanziell von der schwedischen Botschaft unterstützt. Die Premiere wurde von einigen anwesenden Surrealisten, darunter Breton, so gestört, dass Artaud die Polizei rufen ließ, um die Störenfriede zu beseitigen.

      Im selben Manifest wird Vitrac wegen seines Hangs zum Ästhetizismus gescholten: der Theatermann habe sich der „poésie pure“ hingegeben und wolle seine Spektakel „en beauté“3 inszenieren. Aufgrund seines Interesses am Theater, das er als eigenständige Kunstform betrachtete und das er von innen heraus revolutionieren wollte, hatte Vitrac seinen Platz innerhalb der Surrealistengruppe aufs Spiel gesetzt. Jacques Baron schrieb über ihn: „Seul Vitrac s’est réservé la part théâtrale. C’était déjà se situer un peu à côté. Et quand on est un peu à côté avec Breton, on est tout à fait en dehors.“4

      3.3 Theatralität des Surrealismus

      Auch wenn Breton eine Abneigung gegen das Theater hegte, ist der Surrealismus stark von Theatralität geprägt, die sich in der Theatralisierung des öffentlichen Lebens, in der surrealistischen Selbstinszenierung, im Spiel und in der Begeisterung der Surrealisten für einzelne Theaterhäuser und Theaterstücke manifestierte.

      Der öffentliche Raum wurde den Surrealisten zur Bühne: das Café, die Straße, der Flohmarkt nehmen eine zentrale Rolle in der surrealistischen Poetik ein. Dies waren die wahren Schauplätze der surrealistischen Gruppe, deren Mitglieder hier zugleich Akteure und Zuschauer waren. Man traf sich, diskutierte, philosophierte, spielte, träumte, trank und stritt, gleichzeitig war man auch passiver Beobachter des städtischen Treibens. Der Surrealismus prägte einen ganz neuen urbanen Typen, den des Flaneurs, Tagträumers, Dandys und Taugenichts, der sich in den Straßen von Paris treiben lässt und offen für wunderbare Begegnungen ist. Die Surrealisten eroberten sich einen Platz im öffentlichen Leben, wovon die – wenn auch nur kurze – Existenz des Bureau central de recherches surréalistes vom Oktober 1924 bis Januar 1925 zeugt. Diese von Artaud geleitete Institution fungierte als Kontaktstelle zwischen der Surrealistengruppe und der Öffentlichkeit, welche aufgerufen war, sich am „reclassement de la vie“1 zu beteiligen. Die Theatralisierung des öffentlichen Lebens ist charakteristisch für den Surrealismus:

      Every tendency of the nineteenth and twentieth centuries has been toward definition and atomization, toward the establishment of art as one thing and life as another, and toward the distinction of the arts one from another. In its nostalgic effort to return to a past when the boundaries were not so clear, Surrealism constantly sought to make art