Susanne Becker

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus


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principe, totalement indifférente à l’amour-propre de celui qui a parlé. Les mots, le images ne s’offrent que comme tremplins à l’esprit de celui qui écoute.9

      Mit der écriture automatique, die Breton und Soupault in ihrem Gemeinschaftswerk Les champs magnétiques (1919) als surrealistische Technik verwendet hatten, haben die Surrealisten eine Methode gefunden, um an „la 'matière première' (au sens alchimique) du langage“10 zu gelangen. Die zwei Mitbegründer des Surrealismus hatten sich dafür zum „écho de ce qu’on est tenté de prendre pour la conscience universelle“11 gemacht. Die écriture automatique ist die „pensée parlée“12, die ungefiltert und ohne Intervention der Vernunft, des Talents, des Genies oder der Literatur aufs Papier gebracht wird. Der Schreibende wird zum „apparei[l] enregistreu[r]“13, zum passiven Zeugen seines eigenen Unbewussten. Die Surrealisten wollten „crever le tambour de la raison raisonnante et en contempler le trou“14, sie wollten sehen, was hinter der Sprache und dem Denken liegt, wenn man die Ratio aus der Gleichung streicht. Das Resultat war ihnen selbst fremd und zeichnete sich aus durch einen hohen Grad an „absurdité immédiate“15. Die écriture automatique offenbart eine ähnliche Struktur im Denken aller Beteiligten: Breton stellte eine „remarquable analogie“16 zwischen seinen Ergebnissen und denen Soupaults fest. Indem sie ihr ganz subjektives Unbewusstes verfolgten, zapften die Surrealisten das objektive Unbewusste der Welt an. Der surrealistische Künstler ist damit nicht mehr das inspirierte und talentierte Genie, das ein auratisches Kunstwerk kreiert, sondern jemand, der bereit und in der Lage ist, sich in einen passiven Zustand zu begeben, um rezeptiv für das Wunderbare zu sein. Eine solche Figur ist zum Beispiel der Detektiv Létoile in Bretons und Soupaults S’il vous plaît (1920 veröffentlicht), dem in seinem Büro wundersame Dinge widerfahren. Mit den Surrealisten demokratisiert sich die Poesie, die nicht mehr einem bestimmten Kreis von Auserwählten vorbehalten ist, sondern die sich von nun an „à la portée de tous“17 befindet. Die Resultate der écriture automatique konnten Licht auf einen bisher noch im Dunklen gebliebenen Stoff der menschlichen Existenz werfen, dem Stoff, aus dem Träume, Mythen und das Unbewusste gemacht sind:

      la confrontation des produits de cette écriture avait braqué le projecteur sur la région où s’érige le désir sans contrainte, qui est aussi celle où les mythes prennent leur essor. On n’a pas assez insisté sur le sens et la portée de l’opération qui tendait à restituer le langage à sa vraie vie18.

      Die Umgestaltung des Lebens geschieht im Surrealismus also durch eine neue Verwendung der Sprache, weshalb das surrealistische Theater hauptsächlich ein Sprachtheater ist. Die Figuren in den Stücken Bretons, Soupaults, Aragons, Picassos etc. sind rein verbale Wesen, die Poesie produzieren und ihrem Gegenüber als Sprungbrett für weitere Poesie dienen. Sowohl als Subjekte als auch als Objekte haben sie teil an einer übergeordneten poetischen Sphäre, weshalb die Rollenaufteilung arbiträr geworden ist. Die Poesie ist für jeden, der nur rezeptiv genug ist, zugänglich.

      3.4.3 Juxtaposition von Realität und Wunderbarem

      Das surrealistische Leben spielt sich nicht in einem von der Realität abgekoppelten Traumbereich ab, sondern ist immer in der objektiv wahrnehmbaren Wirklichkeit verwurzelt. Realität und Irrealität, Wachzustand und Traum, Luzidität und Delirium, Alltag und Wunderbares stehen sich nicht als voneinander getrennte Sphären gegenüber, sondern kommunizieren miteinander. Das Unbekannte ist immer im Bekannten verwurzelt. Bereits in L’Esprit nouveau et les poëtes (1917) hat Apollinaire das Alltägliche als Ausgangspunkt für die poetische Kreation bestimmt: „On peut partir d‘un fait quotidien: un mouchoir qui tombe peut être pour le poëte le levier avec lequel il soulèvera tout un univers.“1

      Die Handlungsorte in den surrealistischen Stücken sind meist konkret und verweisen auf real existierende Orte, vor allem auf Paris mit seinen Straßen, Cafés, Plätzen, Hotellobbys, Bars und bourgeoisen Intérieurs. Wähnt sich der Zuschauer anfangs noch in einer ihm vertrauten Welt, wird seine Wahrnehmung aber bald irritiert durch eine Verzerrung des vermeintlich Bekannten ins Seltsame, Wunderbare und Überraschende. So wird das Zimmer des Protagonisten Maxime in Desnos‘ La place de l’étoile (1927 entstanden) von einer Seesterninvasion heimgesucht, und bei einem Hausbrand bleibt nur Maximes Zimmer verschont. Hunderte von Orangen kullern in Vitracs Poison (1923 veröffentlicht) plötzlich aus einem Küchenschrank, Soldaten klettern aus einem Spiegelschrank, ein Maler zieht an einem Seil, an dem ein scheinbar leichter Gegenstand befestigt ist, der sich schließlich als Ozeandampfer entpuppt. Realität und Irrealität stehen in den surrealistischen Stücken ständig im Austausch miteinander. Mantchéva2 unterscheidet hier zwischen dem „réel sémantique“, d.h. der empirischen und konkreten Realität, und dem „réel esthétique“, also einer poetischen Wirklichkeit. Diese Realitäten korrespondieren miteinander wie Bretons berühmte „vases communicants“.

      Die Surrealisten knüpfen eine neue Beziehung zu ihrer Umwelt, die vom Wunderbaren geprägt ist: „il est certain que le merveilleux naît du refus d’une réalité, mais aussi du développement d’un nouveau rapport, d’une réalité nouvelle que ce refus a libéré“3. Aragon stellt die These auf, dass das „merveilleux“ in der Antike noch Teil des täglichen Lebens gewesen sei. Mit der Ausbreitung des Christentums sei es aber von der Kirche in eine Parallelwelt von Dämonen, Feen und Riesen verbannt worden. Nach der Rückkehr des Teufels auf die Erde in der Gestalt von de Sade, Rimbaud, vor allem aber Lautréamont, sei das „merveilleux“ schließlich wieder in den Alltag eingezogen, wo „il s’assied au café à côté de nous, il nous demande poliment de lui passer le sucre.“4 Die neue Beziehung, die die Surrealisten mit der Realität eingingen, ermöglichte ihnen den Zutritt zu einer wahrhaftigen Welt, in der das, was bisher als selbstverständlich gegolten hatte, erschüttert wurde. Das Wunderbare ist nun die Richtschnur der surrealistischen Schöpfung: „le merveilleux est toujours beau, n’importe quel merveilleux est beau, il n’y a même que le merveilleux qui soit beau.“5 Jeder kann zum Wunderbaren Zugang erhalten, es ist keiner inspirierten Elite vorbehalten: „Le merveilleux doit être fait par tous et non par un seul“6, schrieb Aragon, der hier ein Zitat der surrealistischen Galionsfigur Lautréamont, dem Initiator des „merveilleux moderne“7, entlehnt.

      3.4.4 Traum

      Im Traum ist alles möglich, hier herrscht die absolute Freiheit. Deshalb ist der Traum ein so fundamentales Element der surrealistischen Ästhetik. Im Manifeste beklagt Breton, dass dem Traum zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt werde. Nach konventioneller Auffassung sei der Wachzustand ein Kontinuum, das kurzzeitig vom Traum unterbrochen werde. Dabei verhalte es sich genau andersherum: der Wachzustand sei die Interferenz, der Traum dagegen ein Kontinuum, das einer genauen Organisation unterliege. Diese Organisation soll untersucht werden, um dem Geheimnis der menschlichen Existenz auf den Grund zu fühlen. Breton ist auf der Suche nach einer absoluten Realität, die in der Überwindung der Trennung zwischen Traum und Wachzustand liegt: „Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire.“1 In Entrée des médiums (1923) nennt er drei Traumtechniken, um den Traum und das Unbewusste zu erkunden: erstens die Wiedergabe von Sätzen, die einem der Geist im Halbschlaf oder im halbschlafähnlichen Zustand diktiert (dieses Verfahren wurde in Les Champs magnétiques angewendet); zweitens Traumprotokolle; drittens und vor allem das Versetzen hypnosebegabter Personen in einen tranceartigen Schlaf. Ende 1922 hatten die Surrealisten mit dieser dritten Variante, dem provozierten Schlaf, experimentiert. Besonders Desnos und Crevel hatten Talent für diese Traumzustände gezeigt, doch wurden die Experimente nach kurzer Zeit aufgrund ihrer gefährlichen und destabilisierenden Wirkung auf die Beteiligten abgebrochen. Der Reiz lag für die Surrealisten darin, dass sich das Unbewusste hier ungehindert und ohne Intervention von Logik und Vernunft, Moral und Geschmacksfragen einen Weg an die Oberfläche bahnen konnte. Der Surrealismus ist somit nicht die Negation von Logik, sondern die Suche nach geheimen Gesetzen im bisher komplett vernachlässigten Bereich des Unbewussten. Ein besseres Verständnis der Mechanik des Traums, so glaubten die Surrealisten, erlaube ihnen auch ein besseres Verständnis des Menschen.

      Der