Susanne Becker

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus


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Stück endet im Tumult, man verlangt nach den Autoren. Dieser vierte Akt, den Aragon später als „happening“2 avant la lettre bezeichnet hat, speiste sich in seiner Erinnerung aus echten Zuschauerreaktionen anlässlich der Uraufführung des zweiten Akts am „Théâtre de l’Œuvre“.3 Das avantgardistische Theater stößt beim gebildeten Publikum auf Unverständnis, Ratlosigkeit, Verärgerung und das Gefühl, zum Narren gehalten zu werden. In Soupaults Erinnerung blieben der Widerstand und die Empörung der Zuschauer angesichts der Aufführung des zweiten Akts zwar aus, was aber nichts an der Relevanz seiner Aussage ändert, dass die Surrealisten es auf Provokation abgesehen hatten. Ihm zufolge waren sie irritiert, dass,

      lorsque furent joués, si l’on ose s’exprimer ainsi, la pièce de Ribemont-Dessaignes, Le Serin muet et le deuxième acte de S’il vous plaît, le public les écouta attentivement, du moins en silence. Ce qui nous surprit et même nous inquiéta. […] J’étais mécontent. J’avais l’impression que nous étions des acteurs amateurs mal à l’aise dans nos rôles. On aurait dû nous siffler mais on nous écoutait.4

      Die Beziehung zwischen Akteuren und Publikum war nicht gleichberechtigt, man suchte keine Kommunikation. Das Bureau de Recherches surréalistes, das eigentlich als Mittler zwischen der Öffentlichkeit und den Surrealisten fungieren sollte, das aber nach kurzer Zeit „devant le nombre de curieux et d’importuns qui l’assiègent“5 wieder geschlossen wurde, steht sinnbildlich für die Verweigerung der Surrealisten, mit ihrem Publikum in einen echten Austausch zu treten. Im Second Manifeste (1930) machte Breton das Verhältnis der Surrealisten zu ihrem Publikum erneut deutlich:

      L’approbation du public est à fuir par-dessus tout. Il faut absolument empêcher le public d’entrer si l’on veut éviter la confusion. J’ajoute qu’il faut le tenir exaspéré à la porte par un système de défis et de provocations.6

      Diese Art der Publikumsbegegnung war nicht dauerhaft aufrecht zu erhalten, da sich die Schockwirkung durch Wiederholung und Gewöhnung abnutzte und zur kalkulierbaren und schließlich vom Zuschauer antizipierten und geforderten Geste wurde.

      Im Gegensatz zu den antagonistisch geprägten surrealistischen Literaten stehen die Dramatiker Artaud und Vitrac, die zusammen mit Aron im Jahr 1926 das „Théâtre Alfred Jarry“ gegründet haben. Artaud hat die Einbeziehung des Publikums zu einem der wichtigsten Ziele des Theaters erhoben. Die Theateraufführung solle zu einem einmaligen und unwiederholbaren Ereignis werden, in dem der Zuschauer seine Existenz aufs Spiel setze, denn das, was auf der Bühne stattfinde, betreffe ihn direkt. Artaud nimmt sein Publikum als gleichberechtigten Partner, von dem auch etwas eingefordert werden kann, ernst:

      L’illusion que nous cherchons à créer ne portera pas sur le plus ou moins de vraisemblance de l’action, mais sur la force communicative et la réalité de cette action. Chaque spectacle deviendra par le fait même une sorte d’événement. Il faudra que le spectateur ait le sentiment que se joue devant lui une scène de son existence même, et une scène capitale vraiment. Nous demandons, en un mot, à notre public, une adhésion intime, profonde.7

      Die Theateraufführung wird zur Operation: das Publikum verlässt den Operationssaal nicht mehr so, wie es ihn betreten hat. In der Aufführung soll das Innerste des Zuschauers auf die Bühne gekehrt werden:

      Le spectateur qui vient chez nous sait qu’il vient s’offrir à une opération véritable, où non seulement son esprit mais ses sens et sa chair sont en jeu. Il ira désormais au théâtre comme il va chez le chirurgien ou chez le dentiste. Dans le même état d’esprit, avec la pensée évidemment qu’il n’en mourra pas, mais que c’est grave, et qu’il ne sortira pas de là dedans intact.8

      Das Theater der surrealistischen Dramatiker spricht das Innerste des Menschen an und wird zur „nécessité spirituelle“ und „opération magique“9. Artaud verspottet sein Publikum nicht mehr, sondern er sucht Verbundenheit und Kommunikation. Dafür braucht er ein talentiertes Publikum, das in der Lage ist, „de nous faire le minimum de confiance et de crédit nécessaires, en un mot de lier partie avec nous“10.

      3.5 Zusammenfassung

      Das poetische Theater steht in der Tradition des Surrealismus und führt das Theater der Surrealisten fort. Das surrealistische Theater war jedoch ein widersprüchliches Unterfangen. Die Widersprüche zeichnen sich bereits im Surrealismus im Großen ab: die Frage, ob die gesellschaftliche Erneuerung mit der Veränderung des Individuums oder aber der Gesellschaft beginnen musste, wurde zur Zerreißprobe für die Surrealisten. War es möglich, das Leben von der Kunst her zu revolutionieren? Oder musste man dafür in die Politik gehen? Vermochte es die Kunst, aus dem Bereich des Ästhetizismus herauszutreten, um im echten Leben Wirkung zu zeigen? Am Theater, wo die Kunst-Leben-Dichotomie aufgrund der Koexistenz von Bühne und Zuschauerraum besonders offensichtlich ist, tritt das surrealistische Dilemma ganz besonders zutage.

      Zwar stand Breton dem Theater skeptisch gegenüber, da es finanziellen und materiellen Zwängen unterlag, als Zeichensystem nicht wahrhaftig war und als künstlerische Institution einen ästhetischen Selbstzweck verfolgte. Dennoch war der Surrealismus stark von Theatralität geprägt, die sich in der Theatralisierung des öffentlichen Lebens, in der surrealistischen Selbstinszenierung, im Spiel und in der Begeisterung der Surrealisten für einzelne Theaterhäuser und -stücke offenbarte.

      Als Forschungsobjekt stand das surrealistische Theater vor zwei großen Herausforderungen. Aus praktischer Sicht waren viele surrealistische Stücke lange nicht zugänglich. Doch dank der in den späten 1960er Jahren einsetzenden Surrealismusforschung wurden die Theaterstücke endlich veröffentlicht, analysiert, geordnet und kontextualisiert. Aus theoretischer Sicht stellte sich die Frage, ob es ein surrealistisches Theater überhaupt geben konnte, schließlich widersprach die dem Theater inhärente Trennung von Bühne und Zuschauerraum der surrealistischen Intention einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis. Die Surrealisten sahen sich am Theater mit zwei Möglichkeiten konfrontiert:

      1 Die Dramatiker des surrealistischen Theaters, Artaud und Vitrac, waren ernsthaft am Theater und seiner Weiterentwicklung von innen interessiert und nahmen Kenntnis von den bühnenspezifischen Gegebenheiten. Sie schlugen den ästhetischen Weg ein und riskierten damit den Verlust der Radikalität und der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Kunst.

      2 Die Literaten des surrealistischen Theaters um Breton sahen das Theater als ein Mittel unter vielen, um die Gesellschaft zu revolutionieren. Sie hegten kein theaterspezifisches Interesse, ihre Stücke waren hauptsächlich verbaler Natur. Nachdem sie jedoch erkannt hatten, dass sich die Grenze zwischen Kunst und Leben nicht aufheben, sondern lediglich verschieben ließ, zogen sie sich von der Institution Theater zurück.

      Die Ästhetik des surrealistischen Theaters umfasst viele Aspekte, die später auch für das poetische Theater von Relevanz sein werden.

      Die Poesie hat bei den Surrealisten einen hohen Stellenwert. Sie ist kein bloßes Ausdrucksmittel mehr, sondern wird praktisch und zur Aktivität des Geistes. Sie erfährt somit eine Entgrenzung aus der Literatur hinein in andere Bereiche des Lebens, wo sie den Menschen aus seinen gesellschaftlichen und moralischen Ketten befreien soll. Bei den Surrealisten demokratisiert sich die Poesie und wird für alle zugänglich.

      In den literarisch geprägten surrealistischen Stücken Bretons, Aragons, Picassos etc., aber auch in den dramatischen Stücken Vitracs, ist die Sprache das zentrale Bühnenelement. Sprache, Denken und Realität waren für die Surrealisten Synonyme: die Sprache musste erneuert werden, um ein neues Denken und damit eine neue Realität hervorzubringen. Die Erforschung der verborgenen Bereiche des menschlichen Daseins geschah über die Sprache. Hierfür bot sich der poetische Dialog ganz besonders an, wo zwei oder mehrere Gesprächspartner einander als Sprungbrett ins Unbewusste dienten. Die surrealistische Technik der écriture automatique ermöglichte es jedem, das Denken von verfremdenden Filtern wie Moral, Vernunft und Konventionen zu befreien und in den bisher im Dunklen liegenden Bereich der Mythen und Träume vorzustoßen. Die Figuren in den surrealistischen Theaterstücken sind rein verbaler Natur, sie sind Subjekte und Objekte zugleich und zapfen eine übergeordnete poetische Sphäre an.

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