umgekehrt einem vorausgesetzten Zweck unterliegt. Im Ergebnis des Handelns, in dem, was Hegel – womöglich mit einer Metapher aus dem Bereich der Kunst – als „Werk“ bezeichnet, wird die Individualität Wirklichkeit und damit zum Fokus des Interesses anderer Personen; darin, dass die Individualitäten sich angeblich auf die Sache, auf das Werk beziehen und nicht auf ihr je eigenes Interesse, sich zu entäußern und zu objektivieren, wird ein Verhältnis sichtbar, in dem die Individuen ihre Individualität verleugnen, ein Verhältnis, das damit als „Betrug“ gekennzeichnet werden muss. Indes: Die „Phänomenologie des Geistes“ enthält noch keine Auskünfte, wie genau die einzelne Individualität zu jener wird, die sie schließlich ist, nämlich, wie ihre Talente und Anlagen sich mit jenem allgemeinen Interesse zusammenschließen, das dann später zum werkgerichteten Handeln führt.
Dieser Frage widmete sich Hegel erst, als er 1808 Gymnasialprofessor des Nürnberger Ägidiengymnasiums wurde. In den dort zu unterschiedlichen Anlässen gehaltenen, so genannten Gymnasialreden sieht sich der Philosoph, der noch in der „Phänomenologie“ unterstellen musste, dass u.a. in ihm und in seinem Wissen der absolute Geist zu sich selbst gekommen sei, und der mithin aus einer Beobachterperspektive heraus urteilte, nunmehr in eine Teilnehmerposition versetzt; in die Position eines Individuums, das mit seiner Tätigkeit daran mitzuwirken hatte, dass Andere, Jüngere zu ihrer Individualität finden und damit das, was in der „Phänomenologie“ als „Geist“, genauer als „sittliche Wirklichkeit“ bezeichnet wurde, zu erhalten. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass „Bildung“ für Hegel auch immer mehr als nur ein Prozess der intergenerationalen Vermittlung von Wissen und Erfahrungen ist, nämlich jener durch Kampf und Entfremdung gekennzeichnete Prozess, in dem der Weltgeist zu sich selbst kommt.
Gleichwohl: Ohne an dieser Stelle auf die bisher in der historischen Erziehungswissenschaft zu stark vernachlässigte Schultheorie Hegels einzugehen, die nicht nur ein differenziertes Verhältnis von Elternhaus und Schule sowie deren unterschiedlichen Funktionen bietet, sondern auch auf instruktive Weise das Verhältnis von Disziplin und Eigeninitiative so ansetzt, dass „sie wesentlich mehr Unterstützung als Niederdrückung des erwachenden Selbstgefühls, eine Bildung zur Selbständigkeit sein müsse“11, sei im Folgenden der Kern von Hegels Theorie der Bildung von Individuen als Individuen vorgestellt. In der Abschlussrede zum Schuljahr 1811 thematisiert er den schulischen Bildungsprozess als einen dialektischen Prozess zwischen der wirklichen Welt und der Jugend:
„Die wirkliche Welt ist ein festes, in sich zusammenhängendes Ganzes von Gesetzen und das Allgemeine bezweckenden Einrichtungen; die Einzelnen gelten nur, insoweit sie diesem Allgemeinen sich gemäß machen und betragen, und es kümmert sich nicht um ihre besonderen Zwecke, Meinungen und Sinnesarten.“12
Damit ist – zumindest im Grundsatz – das Prinzip einer idealistischen Theorie der Allgemeinbildung benannt, wobei deutlich wird, das alles darauf ankommt, wie das hier beschworene „Allgemeine“ bestimmt ist. Ohne auf Details einzugehen, darf aber gesagt werden, dass Hegels „Allgemeines“ die wirklich gewordene Vernunft ist, nämlich eine sittlich-politische Ordnung, die es effektiv ermöglicht, dass Individuen, die ihren Namen verdienen, unter rechtlichen Bedingungen in Freiheit zusammenleben können. Soziologisch ist damit – wenn man so will – die Intention der etwa von Parsons ausgeführten strukturfunktionalistischen Sozialisationstheorie vorweggenommen: Eine jeweils bestehende normative Ordnung erzeugt sich in gewissen Schwankungsbreiten (abweichendes Verhalten ist in einem gewissen Ausmaß unvermeidlich) genau jene Individuen, die ihre Anforderungen erfüllen. Hegels Betrachtung im Jahre 1811 ist indes durchaus dynamisch, wenn er unmittelbar anschließt:
„In dieses System der Allgemeinheit sind aber zugleich die Neigungen der Persönlichkeit, die Leidenschaften der Einzelheit und das Treiben der materiellen Interessen verflochten; die Welt ist das Schauspiel des Kampfs beider Seiten miteinander. In der Schule“ – so stellt Hegel hoffend fest – „schweigen die Privatinteressen und Leidenschaften der Eigensucht; sie ist ein Kreis von Beschäftigungen, vornehmlich um Vorstellungen und Gedanken …“13,
womit sie auf ein bestimmtes Ergebnis zielt, nämlich:
„Was durch die Schule zustande kommt, die Bildung des Einzelnen, ist die Fähigkeit derselben, dem öffentlichen Leben anzugehören“14; die außer der Schule fallende Anwendung von Wissenschaft und Geschicklichkeit ist ihr wesentlicher Zweck. Vor allem aber sind beide in der Schule als lediglich vermittelnde Funktion nur insofern von Bedeutung als sie, wie Hegel ausdrücklich unterstreicht, „als sie von diesen Kindern erworben werden, die Wissenschaft wird darin nicht fortgebildet, sondern nur das Vorhandene …“15
Schule, das ist für Hegel der prozessierende Ort der Konfrontation des Fertigen mit dem Unfertigen:
„Wenn aber der Inhalt der Sache, der in der Schule gelernt wird, etwas längst Fertiges ist, so sind dagegen die Individuen, die erst dazu gebildet werden, noch nicht etwas Fertiges, es kann diese Vorarbeit, die Bildung, nicht einmal vollendet, nur eine gewisse Stufe erreicht werden.“16
Bildung, zumal die Bildung der Individuen stellt damit nichts anderes dar als jenen durchaus auch konflikthaften Prozess, in dem die einzelnen Individuen es auf das Niveau dessen gebracht haben, was sich als der „Geist“ eines – wie das bei Hegel noch heißt – jeweiligen „Volkes“, in kognitiven Wissensbeständen und einer normativen Ordnung als wirklich manifestiert. Ob und wie die Individuen selbst an deren Veränderung wesentlich beteiligt sind, darüber ist jedenfalls aus den Gymnasialschriften nichts zu erfahren – auch die von Hegel geforderte Erziehung zur Selbständigkeit, die darauf zielt, dass die Jugend „frühe gewöhnt werde, das eigene Gefühl von Schicklichkeit und den eigenen Verstand zu Rate zu ziehen“17 stellt einen Fall von Bildung als Anpassung dar – und zwar einfach deshalb, weil das von Hegel präferierte Staatswesen, nämlich die auf bürgerlichem Eigentum beruhende konstitutionelle Monarchie eigenständig urteilender und handelnder Bürger bedarf. Zum Problem und der Frage, ob und wie ggf. der Bildungsprozess der Individuen seinerseits den jeweils wirklichen Geist formt oder auch verändert, scheint sich – sieht man vom Hegel der Jugendschriften ab – in seinem reifen Werk keine Spur zu finden.
3.Hegelsche Allgemeinbildung
Hegels politische Theorie mit ihrer Präferenz einer konstitutionellen Monarchie und einer beinahe ständisch aufgebauten Gesellschaft, entspricht den tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklungen in keiner Weise – in Frage steht, ob seine Grundintention, dass „allgemeine Bildung“ all das enthalten müsse, was erstens die Individuen zu Individuen bildet und sie damit zweitens dazu in die Lage versetzt, als Individuen an einer politischen Ordnung der Freiheit nicht nur zu partizipieren, sondern sie durch ihr Handeln gleichsam kontinuierlich aufrecht zu erhalten, rekonstruierbar ist. Das ist dann der Fall, wenn man einsieht, dass „Allgemeinbildung“ sich nicht an der Fülle dessen orientieren kann, was derzeit von den Natur- über die Bio- und Neurowissenschaften bis hin zu reflexiven Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, von den Künsten ganz zu schweigen, erforscht wurde und gewusst werden kann. „Allgemeinbildung“ erschöpft sich aber auch nicht in dem, was eine managerial orientierte Pädagogik, die sich gerne an der Erwachsenenbildung sowie an Programmen beruflicher Weiterbildung bzw. am Konzept des „lebenslangen Lernens“ orientiert, darunter verstanden wissen will: eher formale Kompetenzen, gelegentlich auch „Schlüsselqualifikationen“ genannt, wie „Lernen des Lernens“, „Teamfähigkeit“ oder „Kompetenzen digitaler Kommunikation“, „Rhetorik“ o.ä. Das heißt: Eine zeitgemäße Allgemeinbildung wird sich auf bestimmte thematische Felder beschränken und zwar auf genau jene, die die Bereiche von Gesellschaft, Geschichte und Politik ausmachen, die es den Individuen also ermöglichen, ein Leben in Freiheit zu führen: Dazu müssen sie
1.wissen, welcher Art die Gesellschaft ist, in der sie leben; welche Optionen und Restriktionen, welche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sie enthält, wie sie funktioniert, welchen Gefährdungen sie ausgesetzt ist – national und global. Soweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse, etwa ökologischer, genetischer oder informationstechnischer Art für diese Fragen – aber auch nur für diese Fragen – relevant sind, gehören auch sie zur allgemeinen Bildung.
2.Als situierte