Karl Heeß

Maß- und Formänderungen infolge von Wärmebehandlung von Stählen


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gebildet wird. Die Proportionalitätskonstante zwischen der umwandlungsplastischen Dehnung und dem Spannungsdeviator hängt aber von der Art der Umwandlung ab /Dal06/.

      In Bild 1.6 sind Dilatometerkurven für die Martensitbildung des 42CrMo4 dargestellt. Es zeigt sich, dass eine Spannung, die kurz vor Beginn der Umwandlung aufgebracht wird, die spannungsfreie Kurve deutlich verändert. Für die Martensitbildung beim 42CrMo4 ergab sich für die Proportionalitätskonstante ein Wert von 4,2×10-5 mm²/N. D.h. bei einer Spannung von 50 MPa resultiert in diesem Fall nach vollendeter Umwandlung eine umwandlungsplastische Deformation von 0,2 %.

      Die Umwandlungsplastizität sorgt speziell bei zeiligem Gefüge für eine Anisotropie und Ortsabhängigkeit der Umwandlungsdehnung. Insbesondere beim Erwärmen von Bauteilen im FP-geglühten Zustand mit ausgeprägten Zeilen aus Ferrit und Perlit können durch diesen Effekt auf mesoskopischer Ebene deutliche Maß- und Formänderungen der Bauteile auf makroskopischer Ebene hervorgerufen werden. Details dazu werden in /Hun12, Ren12/ vorgestellt.

      Bild 1.6:

      Einfluss von Spannungen auf das Längenänderungsverhalten bei der martensitischen Umwandlung am Beispiel des Stahls 42CrMo4 /Bes95/

      1.2.2.3 Plastische Deformationen durch Kriechen

      Auch der dritte verzugsrelevante Plastizitätsmechanismus – das Kriechen – bedarf keiner Mindestspannung. Er wirkt speziell bei erhöhten Temperaturen und ist ein zeitabhängiger Effekt (s. Bild 1.7). Selbst bei einer sehr moderaten Spannung von 5 MPa resultiert bei einer beim Aufkohlen üblichen Temperatur von 940 °C bereits nach einer Stunde eine plastische Deformation von 0,2 %.

      1.2.2.4 Relevanz der Mechanismen

       Die Umwandlungsplastizität ist sowohl beim Erwärmen als auch beim Abkühlen ein relevanter Verzugsmechanismus.

       Die Streckgrenzenüberschreitung ist primär beim Abschrecken von großer Bedeutung. Beim Erwärmen spielt sie dann eine Rolle, wenn sehr große Fertigungseigenspannungen im Teil vorliegen, die bereits bei geringen Temperaturen die Streckgrenze überschreiten.

       Das Kriechen spielt beim Abschrecken keine Rolle, da der für diesen Mechanismus notwendige Temperaturbereich recht schnell durchquert wird. Beim Erwärmen und Halten bzw. Aufkohlen hingegen darf dieser Mechanismus bei einer Bewertung möglicher Verzugsursachen nicht aus dem Auge verloren werden.

      Bild 1.7:

      Plastische Deformation durch Kriechen bei 940 °C am Beispiel des 20MCr5 /Lüb12/

      Zur Ableitung der Systematik der unvermeidbaren Maß- und Formänderungen und der zugehörigen Spannungen wird in den folgenden Abschnitten ein Gedankenexperiment vorgestellt. Dieses Konstrukt ist nicht realistisch, aber es ermöglicht die Entstehung von unvermeidbaren Maß- und Formänderungen zu verstehen.

      Zunächst wird angenommen, dass ein Bauteil unter idealen Bedingungen gefertigt werden kann, d.h.

       es weist eine absolut homogene chemische Zusammensetzung auf,

       es liegt ein homogenes Gefüge mit homogener Korngrößenverteilung vor,

       es beinhaltet keinerlei Texturen und

       die Vorbearbeitung kann einen völlig eigenspannungsfreien Rohling liefern.

      Weiterhin muss angenommen werden, dass die Wärmebehandlung unter idealisierten Bedingungen durchgeführt werden kann. Diese beinhalten:

       gleichmäßige Erwärmung am Bauteil,

       langsamste Erwärmgeschwindigkeit,

       ideale Chargierung mit ausreichend großen Abständen zwischen den Bau-teilen und

       minimal mögliche Abkühlgeschwindigkeit mit

       ideal homogenen Wärmeübergangsverhältnissen.

      Selbst diese perfekte Fertigung würde zu Maßänderungen führen, wenn durch die Wärmebehandlung eine Veränderung der Mikrostruktur bewirkt wird! Bloße Maßänderungen entstehen dann bereits ohne jede plastische Deformation und völlig unvermeidbar durch die Abhängigkeit des spezifischen Volumens vom Gefügezustand (Bild 1.2). Aus diesem Bild /Lem59/ ist bspw. zu entnehmen, dass ein martensitisch gehärtetes Bauteil aus einem Stahl mit 0,4 % Kohlenstoff durch eine Normalglühung mit sehr langsamer Abkühlung, die unter diesen Bedingungen zu einem ferritisch/perlitischen Gefüge führt, eine unvermeidbare Volumenreduzierung erfährt. Dieses Beispiel mag praktisch nicht relevant sein, aber es zeigt klar den Zusammenhang zwischen unvermeidbaren Maßänderungen und Phasenumwandlung unter den eingangs formulierten idealisierten Bedingungen.

      Eine von Wyss erstellte Systematisierung der unvermeidbaren Maß- und Formänderungen bezeichnet diesen Fall mit „Tendenz I“ (Bild 1.8). In dieser Darstellung /Wys72/ kennzeichnen die gestrichelten Linien die Ursprungskontur und die durchgezogenen mögliche Umrisse nach der Wärmebehandlung. Die Tendenz I zeichnet sich durch reine Maßänderungen ohne Formänderungen aus, die aber anisotrop sein können. Sie sind von folgenden Größen abhängig:

       chemische Zusammensetzung (speziell Kohlenstoff)

       Ausgangsgefüge

       Austenitisierbedingungen

       Art der Umwandlung

       Grad der Umwandlung (anteilig, vollständig)

      Bild 1.8:

      Systematik der unvermeidbaren Maß- und Formänderungen /Wys72/

      1.3.2 Maß- und Formänderungen durch thermische Spannungen

      Im nächsten Schritt des Gedankenexperiments wird die Forderung nach beliebig langsamer Abkühlung fallen gelassen, um sich den realen Verhältnissen bei einem Härteprozess anzunähern. Im ersten Schritt soll aber von einem umwandlungsfreien Prozess ausgegangen werden.

      1.3.2.1 Spannungsentwicklung und Eigenspannungszustand

      Grundsätzlich gilt dann, dass bei jedem Abschreckprozess zwangsläufig die Oberfläche zunächst schneller abkühlt als die innen liegenden Bereiche. Dadurch versucht der randnahe Bereich zu kontrahieren. Diesem Bestreben stellt sich aber der noch warme Kern entgegen. Entsprechend kommt es zunächst zur Ausbildung von Zugspannungen am Rand und kompensierenden Druckspannungen im Kern (Bild 1.9, /Ros66/). Mit fortschreitender Abkühlung wächst die Temperaturdifferenz zwischen Rand und Kern an, bis sie ein Maximum erreicht. Zu diesem Zeitpunkt (Punkt W in Bild 1.9) haben sich maximale Zugspannungen eingestellt. Im weiteren Verlauf gehen diese kontinuierlich zurück. Bei rein elastischem Verhalten würde nach Temperaturausgleich ein eigenspannungsfreier Zylinder resultieren (Kurve a). In der Realität wird aber bei einem Abschreckprozess die (temperaturabhängige) Warmstreckgrenze des Werkstoffs in der Regel überschritten und die resultierenden plastischen Deformationen (schraffierte Bereiche) verschieben die Spannungen im oberflächennahen Bereich in Richtung Druck. Am Ende resultiert ein typischer Abschreck-Eigenspannungs-Zustand: Druckeigenspannungen im Randbereich und Zugeigenspannungen im Kern.

      Bild 1.9:

      Entstehung von Wärmeeigenspannungen /Ros66/

      1.3.2.2