Karl Heeß

Maß- und Formänderungen infolge von Wärmebehandlung von Stählen


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die Maßänderungen in diesem Fall letztendlich in den lokalen Überschreitungen der Warmstreckgrenze und den damit verbundenen plastischen Verformungen zu finden ist. Vor Beginn der Arbeiten des Sonderforschungsbereichs Distortion Engineering (SFB 570) im Jahre 2001 ging man davon aus, dass die zugehörigen Maß- und Formänderungen durch die Regel von Ameen beschrieben werden können. Diese besagt, dass beim Vorliegen von reinen Wärmespannungen während des Abschreckens alle Werkstücke Maß- und Formänderungen erfahren, welche ihre Gestalt der Kugelform näher bringen /Ame40/. Ergo verkürzt sich die größere Abmessung und die kleinere vergrößert sich. Die Systematisierung nach Wyss bezeichnet diesen Fall mit Tendenz II (Bild 1.8). Bild 1.10 zeigt dies eindrucksvoll am Beispiel eines ehemals Vierkantknüppel-Ballastkörpers aus 100CrMn6 nach einigen hundert Härtezyklen mit Salzbadabschreckung.

      Bild 1.10:

      Ursprünglich Vierkant-Ballastkörper aus 100CrMn6 nach mehreren hundert Salzbadabschreckungen /Lüb12/

      Die aus reinen Wärmespannungen resultierenden Maßänderungen steigen mit wachsenden Spannungen und sinkender Streckgrenze an. Entsprechend gelten folgende Aussagen /Cha73/, die sinngemäß auch auf den Erwärmvorgang übertragen werden können:

      Es ergeben sich ansteigende Maßänderungen mit

       wachsender Abschrecktemperatur,

       wachsender Abschreckgeschwindigkeit,

       sinkender Wärmeleitfähigkeit,

       wachsender Wärmeausdehnung,

       sinkender Warmfestigkeit und

       wachsenden Abmessungen.

      1.3.2.3 Einfluss der Biot-Zahl auf die Maßänderungen

      Ein Studium noch älterer Veröffentlichungen zu diesem Thema, wie es von Berns durchgeführt wurde /Ber04/, zeigt aber, dass diese Regel nicht in der oben formulierten Allgemeinheit gültig ist. So wurde bereits 1927 von Portevin und Sourdillon festgestellt, dass schlanke Stahlzylinder (∅ 25 × 125 mm), die von einer Temperatur unterhalb von Ac1 in Wasser abgeschreckt wurden, nur bei Abschrecktemperaturen oberhalb eines bestimmten Mindestwertes eine Reduzierung der Länge erfahren und damit der Regel von Ameen entsprechen. Für kleinere Abschrecktemperaturen und für die langsamere Ölabschreckung ergab sich hingegen eine Verlängerung der Zylinder (Bild 1.11, /Por27/). Diese beiden Aspekte sind gleichbedeutend mit einem geringeren Temperaturgradienten während der Abkühlung. Eine Steigerung der Festigkeit der Zylinder durch eine Erhöhung des Kohlenstoffgehaltes im Stahl verschiebt zudem den Beginn der Gültigkeit der Ameen’schen Regel zu höheren Abschrecktemperaturen.

      Bild 1.11:

      Längenänderung von schlanken Stahlzylindern in Abhängigkeit von der Abschrecktemperatur (< Ac1), dem Kohlenstoffgehalt des Stahls und dem Abschreckmedium /Por27/

      Der SFB 570 hatte diese Thematik aufgegriffen und dabei auch geringere Wärmeübergangskoeffizienten, wie sie bei der Abschreckung in Gasen resultieren, in die Untersuchungen mit einbezogen. In einer Vielzahl von Versuchen und Simulationen konnte gezeigt werden, dass eine dimensionslose Kenngröße, die nach dem französischen Physiker und Mathematiker Jean-Baptiste Biot (1774–1862) benannt ist, der Schlüssel zum Verständnis dieses Sachverhalts ist. Die aus der Thermodynamik bekannte Biot-Zahl berechnet sich als Verhältnis des Wärmeübergangs zur Wärmeleitung eines Körpers aus drei Parametern, die

       den Prozess über den Wärmeübergangskoeffizienten α,

       den Werkstoff über die Wärmeleitfähigkeit λ und

       das Bauteil über eine charakteristische Länge – hier Durchmesser D

      charakterisieren:

      Gleichung (1)

      Die Maßänderungen von umwandlungsfreien, langen Zylindern (Verhältnis von Länge zu Durchmesser > 3) infolge eines Abschreckprozesses sind nur vom Wert dieser Zahl und nicht von den Werten der drei Einzelgrößen abhängig /Fre05, Fre07/. In Bild 1.12 sind eine Vielzahl von Simulationen mit verschiedenen Kombinationen dieser drei Parameter zusammengefasst. Es zeigt sich dabei, dass unterhalb einer Mindest-Biot-Zahl von 0,4 keine Maßänderungen resultieren. Unter diesen Bedingungen treten ausschließlich elastische Verformungen auf. Bis zu einer Biot-Zahl von etwa 3,2 kommt es zu einer Bauteilverlängerung mit einer Verringerung des Durchmessers. Erst oberhalb dieses Wertes resultieren Maßänderungen, die der Ameen’schen Regel folgen.

      Bild 1.12:

      Maßänderung von langen Zylindern aus dem austenitischen Stahl X8CrNiS 18–9 in Abhängigkeit der Biot-Zahl /Lüb12/

      1.3.2.4 Einfluss der plastischen Dehnungen auf Maß- und Formänderungen

      Was ist nun der Grund für diese Umkehrung des Maßänderungsverhaltens? Bild 1.13 zeigt für verschiedene Werte der Biot-Zahl die Verteilung der Axialkomponente des plastischen Dehnungstensors. Bis zur maximalen Längenänderung in Bild 1.12 überwiegen über den Querschnitt gesehen positive Werte dieser Größe. Danach nimmt der Querschnittsanteil mit negativen plastischen Dehnungen in Axialrichtung kontinuierlich zu und führt so zu der beobachteten Kontraktion der Länge oberhalb der genannten Biot-Zahl von 3,2. Die Eigenspannungen in Axialrichtung weisen den gleichen Trend auf: Hier steigt mit wachsender Biot-Zahl der Querschnittsanteil mit Zugspannungen in Axialrichtung.

      Bild 1.13:

      Konturänderung mit zugehörigen Verteilungen von plastischer Dehnung und Eigenspannung in axialer Richtung für verschiedene Biot-Zahlen (gezeigt ist jeweils ein Viertel des Zylinderquerschnitts) /Lüb12/

      Es ist zu beachten, dass die oben genannten Werte der Biot-Zahl von 0,4 bzw. 3,2 nur für den der Untersuchung zugrundeliegenden Werkstoff X8CrNiS18–9 gelten. Qualitativ sind aber für alle Werkstoffe, die keine Phasenumwandlungen während einer Wärmebehandlung aufweisen, ähnliche Abhängigkeiten zu erwarten. In /Fre07/ wurden Simulationen mit systematischen Parametervariationen durchgeführt, die den prinzipiellen Einfluss der einzelnen Größen zeigen. Dabei wurde gezeigt, dass insgesamt neben der Biot-Zahl lediglich fünf weitere dimensionslose Kennzahlen zur vollständigen Charakterisierung des Maßänderungsverhaltens von langen Zylindern ohne Phasenumwandlung benötig werden:

      Gleichung (2)

V, O: Volumen und Oberfläche der Zylinder
αth: thermischer Ausdehnungskoeffizient
To, Tq: Abschreck- und Badtemperatur
ν, E: elastisch Eigenschaften (Querkontraktionszahl und E-Modul)
σ0, K, n: plastische Eigenschaften (Streckgrenze und Parameter eines modifizierten Ramberg-Osgood Modells /Fre07/)

      Die Untersuchungen konnten allerdings die Funktionen f und g prinzipiell nicht vorhersagen. Ein erster Ansatz zu einer geschlossenen Beschreibung wurde von Landek entwickelt /Lan08/. Er benutzte gemittelte Materialparameter von 28 repräsentativ ausgewählten austenitischen Stählen und die zugehörigen Standardabweichungen für die Durchführung