besonderem Interesse ist auch das Paradigma der Intersektionalität im Blick auf das Zusammentreffen von Alter, Klasse, Geschlecht, Status und anderen Faktoren im Leben von Kindern. Dieser Ansatz wird zum Beispiel von M.Y. MacDonald und Marianne Bjelland Kartzow auf das biblische Material angewendet.6 Mit „Gedächtnis“ bzw. „Erinnerung“ und „Mündlichkeit“ sind weitere Ansätze benannt, die für die historische Kindheitsforschung von offenkundiger Bedeutung sind, bisher jedoch nur wenig Beachtung gefunden haben. Das Gleiche gilt für die Männlichkeitsforschung.7 Gelegentlich haben sich Forschende dem biblischen Material über Kinder aus einer psychologischen Perspektive genähert, aber nur sehr vereinzelt geht es um das Neue Testament.8
Im Laufe der Jahre hat die Forschung über Kinder und Kindheit in der biblischen Welt selbst zu neuen Entwicklungen in der Methodik beigetragen. Diese lassen sich in zwei Haupttypen einteilen, einen systematisch-synthetischen und einen historisch-analytischen Typ. Ersterer ist enger mit der Hermeneutik verbunden, letzterer mit der Exegese. Es liegt jedoch auf der Hand, dass sie in einem engen und kontinuierlichen Austausch miteinander stehen.
Der erste, traditionellere Typus besteht in der kritischen Reflexion über den Platz der Kinder in der Welt der Bibel, über den historischen Einfluss der Bibel auf das Leben von Kindern und über die Bedeutung und den Wert der Bibel für Kinder. Im Dialog mit der systematischen Theologie wurden im Laufe der Jahre Konzepte einer „Theologie der Kindheit“ entwickelt. Ein älteres Buch von Hans Urs von Balthasar (1988) ist in erster Linie forschungsgeschichtlich von Bedeutung, sofern es das Interesse an der Reflexion über Kinder in der Bibel geweckt hat.9 Ein neuerer Aufsatz von Walter Brüggemann (2008) verfolgt ein ähnliches Ziel und dient als Anregung, die Sorge um die Kinder auf ein biblisches Verständnis von Gott zu gründen.10 In einer Monographie entwickelt David Hadley Jensen (2005) eine Theologie der Kindheit auf der Grundlage des Kindes als „nach dem Bilde Gottes“ geschaffen.11 Kennzeichnend für die meisten dieser Beiträge ist, dass sie sich mit der Bibel als Ganzer befassen und dass sie sich den Quellen meist aus der Perspektive der Erwachsenen nähern. Etwas anders verhält es sich bei Francis Landy (1997), Danna Nolan Fewell (2003) und Kristin Herzog (2005), die sich kritisch mit dem Material aus der Perspektive moderner Kinder und ihrer Bedürfnisse und Interessen auseinandersetzen.12 Joyce Mercer (2005) verbindet eine Theologie der Kindheit mit biblischer Exegese und wendet diese in einem modernen sozialen und religiösen Kontext an.13
Während Ansätze einer „Theologie der Kindheit“ mindestens seit Anfang der 1990er Jahre entwickelt wurden, hat die „kindliche (childist) Auslegung“ oder „kindliche (childist) Interpretationen“ biblischer und anderer antiker, auch nicht-kanonischer Quellen, erst im letzten Jahrzehnt an Boden gewonnen.14 Dies ist das Ergebnis von Impulsen vor allem aus der allgemeinen Kindheitsforschung und den feministischen Studien, aber auch von Ansätzen innerhalb der Bibelwissenschaften selbst, wie der Redaktionskritik. Mehr noch als den Theologien der Kindheit liegt dieser Richtung daran, in enger Fühlung mit den Texten die Welt aus der Perspektive der Kinder selbst zu betrachten. Eine Monographie von Joseph Colle Grassi ist ein früher Beitrag (1991) hierzu.15 In jüngerer Zeit haben Julie Faith Parker (2013) und auch Sharon Betsworth (2015) Verfahren für eine kindgemäße Auslegung von Bibelstellen entwickelt.16 So entwickelt Parker beispielsweise ein spezifisches sechsstufiges exegetisches Verfahren für eine solche Auslegung. In einleitenden Artikeln geben Parker und Kathleen Gallagher Elkins sowie Kristine Henriksen Garroway und John W. Martens einen Überblick über diese Ansätze.17 Darüber hinaus analysiert Danna Nolan Fewell in ihrer Monographie (2003) das biblische Material aus der Perspektive der Handlungsfähigkeit von Kindern, und ich selbst entwickele in einem Kapitel spezifische Kriterien, um sich der Lebenswirklichkeit und dem kulturellen Umfeld von Kindern in der Antike anzunähern.18 Mehrere Kapitel in einem von Christian Laes und Ville Vuolanto herausgegebenen Band enthalten ebenfalls Ansätze, die zur Entwicklung kindlicher Interpretationen beitragen.19 Erkennbar beziehen sich Theologien der Kindheit und kindertheologische Konzepte nicht auf spezifische, klar definierte Konzepte; vielmehr dienen sie als Überbegriffe für Ansätze, die auf unterschiedliche Weise Kinder und ihre Lebensbedingungen, Rollen, Funktionen und Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt stellen. In Anbetracht der vielen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte ist die Zeit vielleicht reif für eine systematischere Reflexion und auch für Versuche einer theologischen Synthese des Denkens über Kinder und Kindheit in der Bibel und insbesondere im NT.
9 Schlussbetrachtungen und Zukunftsperspektiven
In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Erforschung von Kindern und Kindheit in der biblischen Welt stetig zugenommen und sich als ernsthaftes wissenschaftliches Forschungsgebiet etabliert, ähnlich wie andere Bereiche der Bibelwissenschaft und andere Disziplinen. Diese Forschung wird weltweit und in vielen Sprachen betrieben, insbesondere in Nordamerika, England, den skandinavischen Ländern und einigen anderen europäischen Ländern, aber auch in Asien und Afrika.1 Sie formuliert immer neue Forschungsfragen und erschließt immer besser die antiken Quellen. Sie ist auch methodisch gereift und hat ein eigenes Profil und eigene Anliegen entwickelt. Gegenwärtig sind weitere Studien in Arbeit, die einen reichen Ertrag an Aufsätzen, Sammelbänden und Monographien erwarten lassen.2
Wie bereits angedeutet, ist weitere Arbeit an den Quellen erforderlich, und eine Reihe von Fragen muss weiter diskutiert werden. Einige dieser Fragen habe ich bereits angesprochen, sodass hier nur noch einige abschließende Vorschläge für das Studium des NT folgen. Zum Beispiel haben Teile des NT, insbesondere die katholischen Briefe und die Offenbarung, bisher nur begrenzte Aufmerksamkeit erhalten, ebenso wie die neutestamentlichen Apokryphen und andere christliche Werke des 1. bis 3. Jh.s.3 Auch neutestamentliche Schriften, die sich nicht explizit mit Kindern befassen, können von erheblichem Interesse sein, wie z. B. das Johannesevangelium. Frühere Anläufe etwa der feministischen Exegese, sich mit diesen Schriften zu befassen, können orientierend sein. Gegenwärtig wächst auch das Interesse an der Erforschung der Jugend in der antiken Welt, unabhängig davon, ob man sie als eine besondere Phase der Kindheit oder als eine eigene Lebensphase betrachtet. Auch hier eröffnen sich neue Forschungsfelder.4
Üblicherweise tendiert man in der Forschung, auch in der Erforschung des NT dazu, Kinder mit anderen marginalisierten Gruppen wie Frauen, Sklaven und alten Menschen in Verbindung zu bringen und eine Art Gemeinsamkeit oder sogar Harmonie der Interessen dieser Gruppen vorauszusetzen. Gewiss gibt es tatsächlich gemeinsame Anliegen, aber wie man aus einem intersektionalen Ansatz lernen kann, sind auch Konflikte möglich. So wie sich die Perspektiven von Kindern oft stark von denen männlicher Erwachsener unterscheiden, sollten sie sich auch von denen weiblicher Erwachsener unterscheiden. Auch hier ist eine Hermeneutik des Verdachts erforderlich: Die Interessen von Kindern, seien es die von Mädchen und/oder Jungen, sollten als anders als die von Frauen betrachtet werden. In Studien über Eltern-Kind-Beziehungen beispielsweise wird den Anliegen der Erwachsenen oft mehr Aufmerksamkeit geschenkt als denen der Kinder. Man sollte auch auf die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Kategorien von Kindern achten, wobei die jüngsten Arbeiten der disability studies zu Kindern in dieser Hinsicht aufschlussreich sind.5
Ein Thema schließlich, das noch stärker diskutiert werden müsste, ist die Frage nach Kontinuitäten und Veränderungen im Laufe der Zeit, sowohl in der Wahrnehmung der Kindheit als auch in den Lebensbedingungen der Kinder selbst. Dies gilt natürlich für den fast tausendjährigen Zeitraum, den die Schriften des AT abdecken, auf seine Weise aber auch aber auch für das NT. Was kann zum Beispiel über den historischen Jesus gesagt werden: Was war charakteristisch für seine Beziehung zu Kindern, wenn es eine solche denn gab? Hat sich die Einstellung zu und der Umgang mit Kindern von Jesus hin zu den frühen Christen verändert? Und wie unterschied sich das frühe Christentum im Vergleich zu seinem jüdischen und griechisch-römischen Kontext in seinen Vorstellungen über die Kindheit sowie über die Rolle und den Status von Kindern?
Solche Fragen sind gewiss nicht neu und können auch nicht endgültig beantwortet werden. Aber mit vielen neuen Forschungsergebnissen, neuen Erkenntnissen und neuen methodischen Ansätzen können und sollten solche und ähnliche Fragen kontinuierlich untersucht werden. Um der neutestamentlichen Forschung willen. Um der Welt willen, in der wir heute leben. Und um der kleinen Stimmen der Vergangenheit und der Gegenwart willen – der Kinder selbst.
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