Ursula Corbin

"Du sollst nicht töten"


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drehte und gegen Briefmarken »verkaufte«. Dies war essenziell für Pablo,

      es gab ja kein Taschengeld, und er musste sich alles selber beschaffen.

      In Livingston war alles auf einen Schlag ganz anders. Niemand durfte mehr arbeiten, keiner etwas basteln. In den Zellen herrscht totale Isolation, nichts, womit man sich beschäftigen könnte. Auch gibt es niemanden zum Reden, denn die Zellen in Livingston sind rundherum aus Beton, und eine eiserne Tür mit einer Klappe, die nur aufgeschlossen wird, wenn das Essen durchgereicht wird, bildet den einzigen Zugang zur Welt. Hoch oben an der Wand gelangt durch einen kleinen Fensterschlitz ein Streifen Tageslicht in die Zelle; um da hinauszusehen, muss man die Matratze geschickt zusammenfalten und sich daraufstellen. Allerdings sehen sie von diesem wackeligen Konstrukt nur auf den Parkplatz oder an den nächsten Gefängnisblock.

      An diesem unwirtlichen Ort existiert keine Bibliothek, auch kein Kontakt zu anderen Gefangenen, jeder schmort 22 bis 23 Stunden pro Tag in einer winzigen Zelle – alleine. Dreimal pro Woche dürfen sie duschen, begleitet von einem Wärter, und zweimal in der Woche für ein bis zwei Stunden »Ausgang«: Die Todeskandidaten werden in eine Art großen Käfig in einem Innenhof gebracht, der auf allen Seiten von Gittern umgeben ist. Durch das obere Gitter können sie den Himmel sehen. Zwei dieser Käfige stehen nebeneinander, und durch das Gitter können sie mit dem Gefangenen im Käfig nebenan ein wenig reden. An den Wochenenden ist weniger Personal im Einsatz, folglich dürfen die Gefangenen an diesen zwei Tagen außer zur Dusche gar nicht aus der Zelle.

      Für Pablo war Livingston die absolute Katastrophe. Er, der so gerne redete und unter Menschen war, der gerne arbeitete und sich mit allerlei kleinen Basteleien und Malereien beschäftigte, der gerne mit kleinen Dingen wie Esswaren und Zigaretten handelte, war abgeschnitten von allem, ihn umgab die totale Einsamkeit.

      Seit er in Livingston saß, erhielt ich beinahe jede Woche Post von ihm, und ich fühlte mich manchmal etwas überfordert. In der Zwischenzeit hatte ich auf Ersuchen von Emma Wilcox, der Gefängnispfarrerin, angefangen, auch anderen Gefangenen zu schreiben, und es war zunehmend schwierig für mich, allen gerecht zu werden und schnell zu antworten. Es war mir bewusst, wie sehr sie auf meine Briefe warteten und enttäuscht waren, wenn der Wärter wieder nicht vor ihrer Zelle stehen blieb, um einen Brief durchzuschieben.

      Meine Besuche im Gefängnis waren für die Gefangenen sehr wichtig. Pablo freute sich jeweils sehr auf meinen Besuch und zählte lange vorher schon die Wochen und Tage. Jedes Jahr im Herbst nahm ich Ferien und flog auf eigene Kosten in die USA. Zuerst verbrachte ich ein bis zwei Wochen mit Besuchen von Gefangenen in Kalifornien und Texas, anschließend flog ich in meine alte Heimat in Virginia, um noch ein paar Tage nur Ferien zu machen.

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      Stets hatte Pablo für mich gebastelt oder gemalt, und jedes Mal, wenn ich in Texas ankam und im Hotel eincheckte, lag ein Brief an der Rezeption für mich bereit. Einmal fand ich sogar einen Strauß Blumen mit einer Karte von ihm in meinem Hotelzimmer. Wie er das organisieren konnte, ist mir bis heute ein Rätsel.

      Bis auf ein einziges Mal im Herbst 1999 waren die Besuche bei Pablo immer sehr schön. Ahnungslos ging ich ins Gefängnis und setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz. Bald darauf wurde Pablo gebracht, und wir saßen uns wie immer gegenüber, getrennt durch die Glasscheibe. Plötzlich hörte ich, wie die Frau, die auf dem Stuhl neben mir saß, laut anfing zu weinen. Durch die Fensterscheibe vor ihr sah ich einen sehr jungen Mann, der verzweifelt versuchte, sie über das Telefon zu trösten. Pablo sagte mir, dass dies der Mann sei, der heute Abend hingerichtet werde, und die Frau, die neben mir weine, sei seine Mutter. Es war mir schlichtweg nicht mehr möglich, mit Pablo noch eine richtige Konversation zu führen – es brach mir das Herz, diese Mutter zu sehen, die neben mir die letzten Stunden mit ihrem Sohn verbrachte. Ich spürte ihre Verzweiflung, sah sie leiden, und ich sah ständig diesen jungen Kerl, der mein Sohn hätte sein können, und der versuchte, seine Mutter zu trösten. Unweigerlich hörte ich viel von dem, was sie sprachen, und irgendwann musste auch ich weinen. Dann trat ein Pfarrer dazu und betete mit den beiden, und am Schluss musste sich die Mutter durch die Glasscheibe endgültig von ihrem Sohn verabschieden. Keine letzte Umarmung, nur die Glasscheibe und ein Telefonhörer. Der junge Mann wurde abgeführt und seine Mutter aufgefordert, den Raum zu verlassen. Pablo hatte sich so auf meinen Besuch gefreut, und hier saß ich nun und weinte um den jungen Mann und seine Mutter, und ich konnte mich einfach nicht beruhigen.

      Wenigstens hatten wir am nächsten Tag nochmals vier Stunden, doch mir ging das Ganze einfach nicht mehr aus dem Kopf. Der Staat Texas hatte den jungen Mann am Abend zuvor getötet, und ich wollte von Pablo wissen, wofür er so unmenschlich bestraft worden war. Pablo erzählte, der Junge habe mit Kollegen einen Laden überfallen und dabei sei ein Mann erschossen worden. Da niemand gestand und man nicht nachweisen konnte, wer der eigentliche Schütze gewesen war, hatten alle drei die Todesstrafe erhalten. Nach der Verurteilung habe der junge Mann dann auf alle Berufungen verzichtet und schriftlich erklärt, er wolle lieber sofort sterben, als jahrelang auf eine Hinrichtung zu warten. Und nun habe man das Urteil vollstreckt.

      Dieses Erlebnis verfolgte mich noch lange.

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      Eines Tages schrieb Pablo, er habe jetzt noch eine zweite Brieffreundschaft mit einer Frau aus Deutschland angefangen, was mich erleichterte, denn nun gab es einen weiteren Menschen in seinem Leben, der sich um ihn kümmerte. Und diese Frau startete einen Spendenaufruf für Pablo, weil sie mit diesem Geld einen guten Anwalt für ihn engagieren wollte. Aufgrund eigener Erfahrungen und vieler Berichte über die wirklich sehr geldgierigen Anwälte in Texas hatte ich meine Zweifel, aber es war einen Versuch wert.

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       Weihnachten in der Zelle, Zeichnung von Pablo

      Nach unzähligen Aufrufen und Bittbriefen an alle Freunde und Verwandten und mit dem eigenen Ersparten hatte sie nach etwa einem halben Jahr 50000 Dollar zusammengebracht! Damit reiste sie nach Texas zu einem Anwalt, der ihr empfohlen worden war. Von genau diesem Anwalt hatte ich schon einiges gehört, und das war nicht sehr positiv. Also bat ich Pablo, dass er diese Bedenken seiner deutschen Brieffreundin übermitteln solle, doch es war bereits zu spät, sie hatte den Vertrag schon unterschrieben, weil er auf sie einen guten Eindruck gemacht hatte.

      Zu Beginn machte dieser Anwalt seine Arbeit sehr gut. Er fand heraus, dass ein psychologischer Gutachter vor Gericht behauptet hatte, der größte Teil der Mexikaner sei kriminell und würde sich niemals bessern, selbst wenn sie die Chance dazu hätten. Diese Aussage war ganz offensichtlich diskriminierend und hätte nicht zugelassen werden dürfen. Der Anwalt reichte deswegen Klage bei einem höheren Gericht ein, weil diese Aussage die Jury beeinflusst und wesentlich dazu beigetragen hatte, dass Pablo zum Tode verurteilt worden war.

      Es dauerte wie immer viele Monate, bis das Urteil bekannt wurde. Darin hieß es, jeder mexikanische Gefangene, der von diesem voreingenommenen Gutachter beurteilt und anschließend zum Tode verurteilt worden war, hätte Anrecht auf einen neuen Prozess. Man hatte festgestellt, dass er in jedem Prozess die gleiche negative Beurteilung über mexikanische Männer abgegeben hatte. Mit diesem Gerichtsurteil bekamen gleichzeitig mit Pablo noch sieben weitere mexikanische Gefangene eine neue Chance!

      Hoffnung kam auf, wir waren alle ganz euphorisch: Das Todesurteil gegen Pablo war mit sofortiger Wirkung aufgehoben, und er hatte jetzt gute Chancen, »nur« lebenslänglich ins Gefängnis zu müssen. Lebenslänglich hätte bedeutet, dass man ihn bei guter Führung nach 25 Jahren vielleicht freigelassen hätte. Und er hatte ja schon 15 Jahre davon abgesessen. Gewisse Gesetze waren in den letzten Jahren abgeändert worden, und Mord ersten Grades wäre gar nicht mehr zur Debatte gestanden. Da war Licht am Ende des Tunnels, und Pablo getraute sich, Pläne für die Zukunft zu machen.

      Das Gericht entschied, der neue Prozess müsse innert sechs Monaten stattfinden. Das war nicht gut, für die Verteidigung blieb nicht viel Zeit für die Vorbereitung. Wir trösteten uns damit, dass sein Anwalt gut eingearbeitet war und mit solchen