Ursula Corbin

"Du sollst nicht töten"


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mehr, ist alleine, hat Angst – und kann nur noch zu Gott beten, dass er einem Kraft für diesen letzten Tag geben möge! Und dann kommt die Zeit, in der man die Tage und Stunden zählt und schließlich die Minuten – und irgendwann will man nur noch, dass es jetzt schnell geht und alles vorbei ist! Aber dann – nach all dem, was du durchgemacht hast in diesen letzten Tagen – kommt plötzlich ein Anruf aus irgendeinem Büro, und man teilt dir mit, dass die Hinrichtung aufgeschoben wurde! Ein Aufschub von 30 Tagen oder 60 – was immer – es ist ja nur ein Aufschub! Ich kann dir sagen, ich bin schon etliche Male gestorben!«

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      Manchmal kam die Nachricht über den Aufschub erst kurz vor der Hinrichtung. Clifford hatte die letzte Mahlzeit bereits gegessen, das letzte Telefonat beendet, das Gespräch mit dem Pfarrer geführt und ein Medikament zur Beruhigung eingenommen. Bei ihm war es sogar so, dass er an einem dieser Termine schon auf dem Bett festgeschnallt lag, um im nächsten Moment die Giftspritze verabreicht zu bekommen, doch dann kam der Anruf, dass der Gouverneur angerufen habe … Später habe ich von seinem ehemaligen Pflichtanwalt erfahren, dass der Bescheid über den Aufschub schon Stunden vorher im Büro der Gefängnisleitung eingetroffen war!

      In den letzten drei Wochen seines Lebens schrieben wir uns fast täglich. Ich wusste langsam nicht mehr, was ich ihm mehr wünschte: Ein erneuter Aufschub würde bedeuten, dass er nochmals alles durchleben müsste. Alle Berufungsmöglichkeiten waren ausgeschöpft und alle Gnadengesuche abgelehnt worden, wozu sollte ein weiterer Aufschub noch gut sein? Die Hinrichtung schien unausweichlich, war es da nicht besser, sie endlich zu vollziehen?

      Das Thema Tod und was nachher kommen werde, war in diesen letzten Briefen sehr wichtig. Clifford betonte darin, er sei bereit zu sterben, durch die Konvertierung zum Islam habe er seinen Weg in Allah gefunden. Angst verspüre er keine mehr, denn er habe seinen Frieden gefunden.

      Bevor Clifford nach Texas gezogen war, hatte er im Norden der USA, in Illinois, gelebt. Er war damals verheiratet, hatte einen kleinen Sohn und ein gut gehendes kleines Unternehmen, das darauf spezialisiert war, alte Häuser zu renovieren. Er war auch aktiv in einer religiösen Gemeinschaft und führte ein ganz normales Leben. Bis seine Ehe in die Brüche ging. Die Situation wurde für ihn unerträglich, und er wollte nur noch weg. Als ihm ein Kollege erzählte, dass es leicht sei, in Texas einen Job zu finden, ließ er alles stehen und liegen und machte sich auf nach Texas. Somit verlor er auch jeglichen Kontakt zu seiner Exfrau und seinem Sohn.

      Seine Eltern waren beide verstorben, und mit seinen Geschwistern hatte er schon lange keinen Kontakt mehr. Es war ganz einfach niemand mehr da von seiner Familie, denen er etwas bedeutete.

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      Etwa zwei Wochen vor der Hinrichtung besuchte ich Clifford noch ein letztes Mal. Wie immer flog ich nach Houston, mietete am Flughafen ein kleines Auto und fuhr auf dem Highway 45 etwa eine Stunde Richtung Norden. Kurz nach der Ausfahrt Huntsville steht das Motel 6. Es ist eine billige, aber saubere Unterkunft. Die Tage verbrachte ich im Gefängnis, und mehr als ein sauberes Bett und eine gute Dusche brauchte ich nicht. Frühmorgens fuhr ich jeweils hinaus aufs Land. Die Straße nach Ellis One führte an großen Farmen mit Rindern vorbei und entlang endloser Felder. Die letzten Kilometer waren bewaldet, und man musste sehr aufpassen, die Einfahrt zu Ellis One nicht zu verpassen. Dies war das Gefängnis, in dem mehrere Hundert Männer einsaßen, die schwere Verbrechen begangen hatten. Sie waren alle entweder zum Tode verurteilt worden oder hatten lebenslange Haftstrafen ohne Bewährungsmöglichkeit abzusitzen.

      Wenn man mit dem Auto bei Ellis One ankam, musste man etwa 200 Meter vor der Einfahrt stehen bleiben. Von einem Turm wurde an einer Leine ein Korb heruntergelassen, in den man seinen Pass legen musste, woraufhin der Korb wieder hinaufgezogen wurde. Welch altmodische Einrichtung in diesem hoch technologischen Land! Wurde der Pass wieder im Korb heruntergelassen, hieß dies, man dürfe nun hineinfahren und den Wagen vor dem Gefängnis auf einem großen Parkplatz abstellen. Als Nächstes betrat man eine kleine Baracke, in der die obligate Leibesvisitation durchgeführt wurde. Oft war dafür eine blonde, sehr kühle Frau zuständig; wir nannten sie den »Eisengel«. Sie entschied, ob man anständig genug angezogen sei, und sie durchsuchte jede Person ganz genau. Erst wenn sie zufrieden war, durfte man durch das erste verschlossene Tor gehen. Kaum befand man sich auf dem schmalen Asphaltstreifen zwischen den Zäunen, wurde hinter einem das Tor wieder geschlossen und das nächste geöffnet. Drei elektrische Zäune musste ich auf diese Weise passieren, bis ich das eigentliche Gefängnisgebäude betreten konnte. Dort musste ich mich am Schalter anstellen, meinen Pass abgeben und warten. Nach rund 15 Minuten erhielt ich eine Nummer und musste mich auf den entsprechend nummerierten Stuhl setzen. Bis der Gefangene gebracht wurde, verging nochmals mindestens eine halbe Stunde, dann konnten wir durch eine Scheibe und ein Eisengitter über einen Telefonhörer miteinander sprechen.

      Clifford und ich blendeten die Möglichkeit aus, dass dies unser letzter Besuch sein könnte. Ich schaute ihn durch das Gitter genau an. Ein gut aussehender Mann, groß, kräftig und gesund. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme, ein sympathisches Lachen und er konnte wunderbar zuhören. Wenn er über gewisse Themen wie Religion oder Politik sprach, war er ein leidenschaftlicher Redner, dem man einfach zuhören musste; unmöglich, mir vorzustellen, dass er in Kürze nicht mehr leben würde. Dass man diesen Mann, dieses Menschenleben, mit einer Giftspritze auslöschen würde. Es war unerträglich. Ich musste mich zwingen, an etwas anderes zu denken.

      Wir sprachen über sein Leben und was alles hätte möglich sein können, wenn diese verhängnisvolle Nacht nie geschehen wäre. Wäre er nur in Illinois geblieben, zusammen mit seiner damaligen Ehefrau und dem kleinen Sohn hatte er doch ein gutes und sorgenfreies Leben gehabt. Die Scheidung von ihr hatte alles in seinem Leben durcheinandergebracht. Er hätte sicher gut für seinen kleinen Sohn gesorgt. Die Frage, wo sein Sohn wohl jetzt sein möge und wie es ihm wohl gehe, beschäftigte ihn sehr. Das Schlimmste für ihn war, dass er seinen Sohn seit seinem Umzug nie mehr gesehen hatte, er musste inzwischen ein erwachsener Mann sein.

      Bei einem Rundgang auf dem Hof in Ellis One hatte er einen sehr interessanten Mitgefangenen kennengelernt. Dieser war ein glühender Anhänger von Louis Farrakhan und Mitglied in dessen Gruppe »Nation of Islam«. Aufgrund der Erzählungen des Mitgefangenen begann Clifford sich intensiv mit dem Islam zu beschäftigen. Seine Schlussfolgerung: Der Islam ist die richtige Religion für ihn und für alle Menschen. Diese Erkentnis schrieb Clifford dem Imam, der wöchentlich in Ellis One vorbeischaute, und teilte ihm mit, dass er übertreten wolle. Nach der Konvertierung gehörte er mit Leib und Seele zum Islam und hieß nicht mehr Clifford (das sei ja sicherlich nur ein Name eines weißen Sklavenhalters), sondern nannte sich Abdullah. Er bat mich, ihn ab sofort nur noch mit Abdullah anzusprechen, und sagte, er wünsche sich so sehr, dass ich mich auch mit dieser Religion befasse. Auch ich würde dann begreifen, dass das Christentum leider nur ein Irrglaube sei. Er werde mir sofort einen Koran zuschicken. Meine Einwände, dass ich viele Jahre in arabischen Ländern gelebt habe und diese Religion recht gut kenne und ich zufrieden sei mit meinem Glauben und auf keinen Fall konvertieren würde, ließ er überhaupt nicht gelten. Nach meiner Rückreise lag ein dicker Koran in meinem Briefkasten und jeder Brief von ihm handelte fast nur noch vom Islam.

      Ab und zu sprachen wir über Mary, seine zweite Frau. Er bat mich, mit ihr in Kontakt zu bleiben, denn es war ihm bewusst, wie schwierig sein Tod für sie werden würde.

      Lange redeten wir auch über den Tod und seine bevorstehende Hinrichtung. Diesmal werde es passieren, meinte er, er glaube nicht mehr an einen Aufschub. Ich versuchte noch, ihm zu sagen, dass dies ja schon so viele Male geschehen sei, doch er blieb dabei, er glaubte nicht mehr an einen Aufschub.

      Als die Wärterin ankündigte, die Besuchszeit sei in fünf Minuten abgelaufen, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er versuchte mich zu beruhigen, aber auch ihm liefen Tränen über die Wangen. Schließlich erschienen zwei Wärter, und ich musste den Raum verlassen. Ich winkte ihm noch ein letztes Mal zu, und er nickte und lächelte – zurückwinken konnte er nicht, da seine Hände auf dem Rücken in Handschellen gelegt waren.

      Bis am späteren Nachmittag