Ursula Corbin

"Du sollst nicht töten"


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es hieß ja, dieses Land sei ein Vorbild für die ganze Welt.

      Dass weite Teile der Bevölkerung wegen der hohen Kriminalitätsrate in Angst lebten, konnte ich verstehen. Aber wie konnte man nur so simpel denken, dass man dieses Problem loswürde, indem man die Täter für Jahrzehnte wegsperrte und die Schlimmsten von ihnen tötete? Und wenn man wirklich davon überzeugt war: Warum wurde es dann nie besser? Warum fragte niemand nach den Ursachen? Dabei waren doch gerade in diesem Land die Menschen so religiös und gingen in die Kirche – wie konnten sie das gesetzliche Töten mit dem christlichen Glauben vereinbaren? Ich verstand das nicht und war entsetzt und zutiefst enttäuscht von diesem Land.

      Ein paar Jahre später kehrte ich in die Schweiz zurück. Noch einmal startete ich mein Leben neu, und ich war glücklich und zufrieden, mit meinem Sohn hier leben zu dürfen. Aber all das, was ich in den USA wie in einigen anderen Ländern gesehen und erfahren hatte, hatte sich tief in mir eingeprägt, und ich wollte unbedingt etwas gegen all dieses Unmenschliche und Ungerechte tun. Also trat ich unserer Quartiergruppe von Amnesty International bei. Ich schrieb viele Protestbriefe und nahm an Standaktionen auf den Plätzen von Zürich teil. Meist ging es um politische Gefangene oder um Menschen, die aus religiösen oder ethnischen Gründen verfolgt, gefoltert, verschleppt, inhaftiert und oft auch getötet wurden. Wir sammelten Unterschriften und schrieben massenweise Briefe, um die entsprechenden Regierungsstellen unter Druck zu setzen. Um Geld für diverse Projekte aus aller Welt aufzutreiben, organisierten wir Mittagstische, führten einen Stand am Quartierfest und verkauften Schokoherzen. Ich war überall dabei.

      Regelmäßig trafen wir uns in einem Saal eines Pfarreizentrums, und an einer dieser Sitzungen las unser Präsident einen Brief von einem Mann in einer Todeszelle in Texas vor. Dieser Gefangene schrieb, er habe ein Hinrichtungsdatum erhalten und werde in drei Monaten hingerichtet; sein großer Wunsch lautete, noch mit jemandem zu korrespondieren, bis es so weit sei. Der Brief war auf Englisch geschrieben, und unser Kollege fragte in die Runde, ob denn jemand genug Englisch beherrsche, um eine solche Korrespondenz zu führen. Ja, ich konnte dies tun und wollte diesen Mann in diesen letzten drei Monaten begleiten – wenn auch nur mit meinen Briefen.

      So begann mit meinem ersten Brief an Clifford im Sommer 1986 mein Engagement, das bis zum heutigen Tag andauert. Fast 35 Jahre sind inzwischen vergangen; in diesen vielen Jahren haben wohl Tausende Briefe den Atlantik überquert, und ich war unzählige Male zu Besuch in den Gefängnissen von Texas und Kalifornien.

      Mit insgesamt 15 Männern, die alle zum Tode verurteilt waren, habe ich in diesen Jahren korrespondiert und viele von ihnen auch regelmäßig besucht. Acht von diesen Lebensgeschichten habe ich ausgewählt für dieses Buch – es sind die acht Gefangenen, mit denen ich am intensivsten und längsten Kontakt hatte. Alles was ich hier berichte, habe ich von ihnen persönlich erfahren, das Einzige, was ich bei einigen geändert habe, sind ihre Namen – ansonsten entspricht alles genau dem, was sie mir über die Jahre geschrieben und erzählt haben.

      In liebevoller Erinnerung an meine beste Freundin Gisela

      1948–2005

      Eine hochintelligente Frau und engagierte Ärztin, mitfühlend und sozial denkend, sensibel und weltoffen. Und trotz ihrer zierlichen Gestalt hatte sie ein riesengroßes Herz.

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       1.Abdullah alias Clifford

      »Ich bin schon oft gestorben«

      Inhaftierung: Februar 1982

      Haftanstalt: Ellis One, Huntsville, Texas, USA

      »Hallo, hier ist das Büro von Herrn Schwartz, was kann ich für Sie tun?« Die weibliche Stimme am anderen Ende war ausgesprochen freundlich.

      »Guten Tag, hier spricht Ursula Corbin, ich rufe aus der Schweiz an. Könnten Sie mich bitte mit Herrn Schwartz verbinden?«

      »Moment, ich schaue nach, ob er im Büro ist.«

      Die Minuten schienen endlos. Dann meldete sich ein sonorer Bariton: »Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?«

      »Schön, dass ich Sie erreiche, vielleicht erinnern Sie sich an mich? Sie waren letzte Woche in Zürich und haben einen Vortrag über die Todesstrafe in den USA gehalten. Danach habe ich Sie angesprochen, ich bin die Frau mit den langen, dunklen Haaren, die mit einem zum Tode verurteilten Mann in Texas korrespondiert. Sie haben mir Ihre Visitenkarte gegeben und angeboten, dass ich mich melden solle, falls ich Hilfe brauchen könnte. Und jetzt brauch ich tatsächlich Ihre Hilfe. Der Gefangene, den ich erwähnte, hat ein Hinrichtungsdatum erhalten, und sein Termin ist schon in drei Wochen. Besteht die Möglichkeit, dass sich ein Anwalt eurer Organisation diesen Fall anschaut? Vielleicht gelingt es ja, diese Hinrichtung zu stoppen?«

      »Ja, ich kann mich gut an Sie erinnern, und auch an das, was Sie mir erzählt haben. Ich werde prüfen, ob wir jemanden haben, der nach Texas reisen kann und sich der Sache annimmt. Versprechen kann ich Ihnen aber gar nichts. Vielleicht gelingt uns ein Aufschub, dann gewinnen wir Zeit, um den Fall genauer anzusehen. Aber wie gesagt, versprechen kann ich gar nichts.«

      »Was immer Sie tun können, wir sind Ihnen sehr dankbar. Clifford hat aber kein Geld, um Ihre Arbeit zu bezahlen. Wäre es trotzdem möglich, einen Anwalt von euch zu schicken?«

      »Wir bei ACLU arbeiten alle unentgeltlich, also machen Sie sich keine Sorgen um das Finanzielle. Das ist im Moment noch das kleinste Problem. Ob wir noch Zeit haben, etwas zu bewirken, das ist die entscheidende Frage. Also lassen Sie mich aktiv werden, Sie hören von mir!«

      Ich hörte nichts mehr von ihm und wurde zunehmend nervöser. Die Tage verstrichen, von Clifford bekam ich fast täglich einen Brief, aber keinerlei Neuigkeiten von Harry Schwartz. Ich konnte mich erinnern, dass er während seines Vortrags in Zürich erzählt hatte, dass er sein Leben lang als Anwalt für diverse Menschenrechtsorganisationen tätig gewesen sei und nun gedenke, bald in Pension zu gehen. Hatte er den Fall von Clifford vergessen?

      Die ACLU (American Civil Liberty Union – www.aclu.org) ist eine Organisation mit Sitz in New York, die sich für Bürgerund Freiheitsrechte in den USA einsetzt. Sie wurde 1920 von einer Gruppe aus Privatpersonen und Anwälten gegründet und wird durch Spenden finanziert.

      Über meine Kontaktaufnahme zu ACLU hatte ich Clifford nicht informiert, denn er bereitete sich mental auf die Hinrichtung vor, und ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. Man hatte ihn unterdessen gefragt, was er sich als letzte Mahlzeit wünsche, ob er lieber einen gelben, blauen oder orangen Overall zur Hinrichtung tragen wolle und ob er noch ein Telefongespräch kurz vor der Hinrichtung führen möchte. Auch wollte man von ihm wissen, ob er für die letzten zwei Stunden einen Priester an seiner Seite wünsche und ob er, kurz bevor es dann so weit sei, ein Beruhigungsmittel einnehmen möchte. Die Häftlinge in Ellis One durften damals tatsächlich wählen, in welcher Overallfarbe sie ihre letzte Reise auf Erden antreten wollten; man könnte das zynisch nennen.

      Etwa eine Woche vor der Hinrichtung die Nachricht: Aufschub! Harry Schwartz hatte tatsächlich einen Anwalt aus New York nach Texas geschickt, und dieser hatte in Zusammenarbeit mit Cliffords Pflichtverteidiger wegen eines Formfehlers einen Aufschub beim Gericht erzielt. Aufgeschoben – nicht aufgehoben. Doch das bot immerhin etwas Luft und Zeit, den Fall noch einmal genauer anzusehen.

      Wie die meisten Häftlinge im Todestrakt hatte Clifford nie die finanziellen Mittel, um sich einen guten Anwalt zu nehmen, und so wurde ihm ein Pflichtverteidiger zugeordnet. Dieser riet ihm vor dem Prozess, er solle nicht aussagen – er werde das schon erledigen. Also schwieg Clifford und vertraute darauf, dass der Pflichtverteidiger schon wisse, wie er ihn am besten verteidige. Es war der erste Mordfall, den dieser Verteidiger zugeteilt bekommen hatte. Die Bezahlung des Staates an einen Pflichtverteidiger für eine solche Arbeit war limitiert und betrug nur ein Bruchteil der horrenden Honorare, die sie für »normale« Fälle erhielten. Zugleich ist jeder Anwalt in Texas verpflichtet,