Sinclair Lewis

Sinclair Lewis: Die großen Romane


Скачать книгу

ohne Untersatz. Sie entschuldigten sich und besprachen die Partien, während sie sich durch das Dickicht der Füße durcharbeiteten. Dann verteilten sie heiße Butterbrötchen, Kaffee, der aus einer glasierten Steingutkanne eingeschenkt wurde, gefüllte Fleischrouladen, Kartoffelsalat und Backwerk.

      Sie aßen ungeheuerlich. Carola hatte den Verdacht, die sorglichen Hausfrauen wollten sich bei den Nachmittagseinladungen ihr eigenes Abendessen ersparen.

      Sie versuchte wieder in den Strom zu gelangen. Sie ging zu Frau McGanum. Die kräftige, liebenswürdige junge Frau McGanum, die Arme und Brust wie ein Milchmädchen hatte und mit völlig ernsthaftem Gesicht laut und dünn zu lachen pflegte, war die Tochter des alten Dr. Westlake und die Frau von Westlakes Kompagnon McGanum. Kennicott behauptete, Westlake, McGanum und deren verdorbene Familie seien hinterlistig, aber Carola hatte sie angenehm gefunden. Sie bat um Freundlichkeit, indem sie Frau McGanum fragte: »Wie geht's dem Kleinen jetzt mit dem Hals?« und lauschte voll Aufmerksamkeit, während Frau McGanum schaukelte, strickte und in aller Ruhe einzelne Symptome schilderte.

      Nach der Schule kam Vida Sherwin und brachte die Stadtbibliothekarin Fräulein Ethel Villets mit. Fräulein Sherwins optimistische Person ließ Carola etwas zuversichtlicher werden. Sie redete. Sie erzählte: »Vor ein paar Tagen bin ich mit Will fast bis nach Wahkeenyan hinausgekommen. Das Land ist doch zu schön! Und ich bewundere die skandinavischen Farmer dort draußen so: ihre großen roten Scheunen und Silos und Melkmaschinen und alles. Kennen Sie die einsame Lutheranerkirche dort, mit dem Turm, der eine Blechhaube hat, sie steht ganz allein auf einem Hügel? Sie ist so düster; irgendwie sieht sie tapfer aus. Ich glaube wirklich, die Skandinavier sind die stärksten und besten Menschen.«

      »So, glauben Sie?« protestierte Frau Jackson Elder. »Mein Mann sagt, die Schweden, die in der Hobelwerkstatt arbeiten, sind einfach entsetzlich – sie reden nie und sind so komisch, und so egoistisch mit ihrem ewigen Geschrei nach Lohnerhöhungen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe, würden sie ganz einfach das Geschäft ruinieren.«

      »Ja, und sie sind ganz einfach schauderhafte Dienstmädel!« klagte Frau Dave Dyer. »Ich kann einen Eid darauf schwören, ich schind' mich selber ab, um es meinen Dienstmädchen recht zu machen, wenn ich überhaupt welche kriegen kann! Ich tu' alles für sie. Sie dürfen sich, wann sie wollen, von ihren Freunden in der Küche besuchen lassen, und sie kriegen genau dasselbe zu essen wie wir, wenn was übrigbleibt, und ich mach' ihnen eigentlich nie einen Krach.«

      Juanita Haydock sagte knarrend: »Sie sind undankbar, alle diese Leute. Ich glaube, die Dienstmädchenfrage wird ganz einfach fürchterlich. Ich weiß nicht, wohin das Land kommen wird, wenn diese skandinavischen Bauernlümmel jeden Cent von einem haben wollen, den man sich absparen kann, und dann sind sie so ungebildet und unverschämt und verlangen, mein Wort darauf, Badewannen und alles mögliche – als ob sie zu Hause nicht zufrieden und glücklich wären, wenn sie sich in einem Waschzuber baden können.«

      Jetzt waren sie in Schwung gekommen. Carola dachte an Bea und überfiel die Gesellschaft:

      »Aber kann das nicht vielleicht der Fehler der Herrinnen sein, wenn die Mädchen undankbar sind? Seit Generationen haben wir ihnen die Überbleibsel vom Essen und Löcher zum Schlafen gegeben. Ich will mich nicht dick tun, aber ich muß sagen, daß ich nicht viel Ärger mit Bea habe, sie ist so freundlich. Die Skandinavier sind gute Arbeiter und ehrlich –«

      Frau Dave Dyer fuhr auf. »Ehrlich? Nennen Sie es ehrlich, wenn sie uns jeden Cent Lohn, den sie nur kriegen können, aus der Tasche ziehen? Ich kann nicht sagen, daß bei mir schon eine gestohlen hätte – obwohl man's ja stehlen nennen könnte, wenn sie so viel essen, daß ein Rostbeaf kaum auf drei Tage reicht – aber trotzdem will ich nicht, daß sie denken, sie können mit mir alles anfangen! Ich lass' sie ihre Koffer immer unten, direkt unter meinen Augen, ein- und auspacken, und dann weiß ich, daß sie durch irgendeine Nachlässigkeit von mir nicht in die Versuchung kommen, unehrlich zu sein!«

      »Wieviel bekommen die Mädchen hier?« wagte Carola zu fragen.

      Frau B. J. Gougerling, die Frau des Bankiers, stellte empört fest: »Alles mögliche zwischen drei fünfzig und fünf fünfzig in der Woche. Ich weiß positiv, daß Frau Clark, nachdem sie geschworen hat, sie wird nicht nachgeben und die Leute in ihren unverschämten Forderungen ermutigen, daß sie sich dann hingestellt und fünf fünfzig bezahlt hat. Denken Sie nur! Eigentlich ein Dollar täglich für ungelernte Arbeit, und natürlich das Essen und die Wohnung und die Möglichkeit, jedesmal bei der Wäsche mitzuwaschen. Wieviel bezahlen Sie, Frau Kennicot

      »Ja, wieviel bezahlen Sie?« rief ein halbes Dutzend Stimmen.

      »Ich, ich zahle sechs in der Woche«, bekannte sie schwach.

      Alle fielen aus den Wolken. Juanita legte Protest ein: »Glauben Sie nicht, daß es für uns andere sehr schwer ist, wenn Sie so viel bezahlen?« Juanitas Interpellation wurde von der allgemeinen Feindseligkeit unterstützt.

      Carola ärgerte sich. »Das ist mir egal! Ein Dienstmädel hat eine der schwersten Arbeiten auf Gottes Erdboden. Sie arbeitet täglich zehn bis achtzehn Stunden. Sie muß fettige Teller und schmutzige Kleider waschen. Sie gibt auf die Kinder acht und läuft mit aufgesprungenen Händen zur Tür, und –«

      Frau Dave Dyer unterbrach wütend Carolas Suada: »Das ist ja alles recht schön und gut, aber Sie können mir glauben, ich mach' alles das selber, wenn ich kein Mädel hab', und das kommt bei einem Menschen, der nicht nachgeben und kolossale Löhne bezahlen will, recht oft vor!«

      Carola gab zurück: »Aber ein Mädchen macht es für Fremde, und alles, was sie davon hat, ist der Lohn –«

      Die Augen der anderen Frauen waren feindlich. Vier redeten auf einmal. Vida Sherwins Kommandostimme schnitt das Streiten ab, unterdrückte die Revolution:

      »Ruhig, ruhig! Was ist das für eine wütende Leidenschaftlichkeit und was für eine alberne Diskussion! Ihr alle nehmt das zu ernst. Schluß damit! Carola Kennicott, Sie haben wahrscheinlich recht, aber Sie sind der Zeit zu weit voraus. Juanita, hören Sie auf, so kampflustig dreinzuschauen. Was ist das hier, eine Kartenpartie oder ein Hennenkampf? Carola, hören Sie auf, sich als die Jungfrau von Orleans für die Dienstboten zu bewundern oder Sie kriegen einen Klaps von mir. Kommen Sie her und sprechen Sie mit Ethel Villets über Bibliothekssachen. Muh! Wenn noch weiter gepickt wird, übernehm' ich das Kommando über den Hühnerhof!«

      Alles lachte krampfhaft, und Carola sprach gehorsam »über Bibliothekssachen«. Eine Kleinstadtvilla, die Frauen eines Dorfarztes und eines Dorfkaufmanns, eine Provinzlehrerin, ein Wortstreit über einen Dollar mehr Lohn in der Woche. Aber die Bedeutungslosigkeit dieser Angelegenheit war der Widerhall von Kellerverschwörungen, Kabinettsberatungen und Gewerkschaftskonferenzen in Persien und Preußen, in Rom und in Boston; und die Redner, die sich internationale Führer dünken, sind nichts weiter als die erhobenen Stimmen einer Billion Juanitas, die eine Million Carolas tadeln, und dazu hunderttausend Vida Sherwins, die sich bemühen, das Unwetter zu verscheuchen.

      Carola fühlte sich schuldig. Sie bewunderte hingebungsvoll das altjüngferliche Fräulein Villets – und beging unverzüglich ein zweites Verbrechen gegen die Gesetze des Anstands.

      »Wir haben Sie noch nicht in der Bibliothek gesehen«, sagte Fräulein Villets in vorwurfsvollem Ton.

      »Ich wollte immer schon mal hinkommen, aber ich hatte so viel mit meiner Einrichtung zu tun, und – Ich werde wahrscheinlich so oft hinkommen, daß es Ihnen zum Hals heraushängen wird. Sie sollen eine so hübsche Bibliothek haben, hat man mir erzählt.«

      »Vielen Leuten gefällt sie. Wir haben zweitausend Bücher mehr als Wakamin.«

      »Das ist schön. Ich bin überzeugt, Sie haben sehr viel Verantwortung. Ich habe in St. Paul einige Erfahrung gehabt.«

      »Ja, davon hab' ich gehört. Ich könnte aber nicht sagen, daß ich die Bibliotheksmethoden in diesen großen Städten ganz billige. Man ist dort so leichtsinnig, fast läßt man Vagabunden und alle möglichen schmutzigen Menschen im Lesesaal schlafen.«

      »Ich weiß, aber die armen Teufel – Also, ich