aber – Himmel, man kann doch nicht ununterbrochen eine Stadt hassen!«
»Warum nicht? Ich kann's! Ich hasse sie seit zweiunddreißig Jahren. Ich werde hier sterben, und ich werde sie hassen – bis ich sterbe. Ich hätt' Geschäftsfrau werden müssen. Ich hab' einen ziemlich ausgeprägten Zahlensinn gehabt. Alles vorbei jetzt. Manche Leute glauben, ich bin verrückt. Bin ich wohl auch. Ich sitz' da und brumm'. Geh' in die Kirche und sing' Hymnen. Die Leute glauben, ich bin fromm. Unsinn! Ich will nur das Waschen und Bügeln und Sockenstopfen vergessen. Ich brauch' meinen eigenen Laden und müßte Sachen verkaufen. Julius hat nie was davon wissen wollen. Zu spät.«
Carola saß auf dem alten Sofa und versank in Furcht. Konnte diese Öde des Lebens also ewig dauern? Würde sie einmal sich selbst und ihre Nachbarn so verachten, daß auch sie als altes, mageres, exzentrisches Weib in einem schäbigen Katzenpelz durch die Hauptstraße gehen würde? Während sie sich nach Hause schlich, fühlte sie, daß die Falle endgültig zugeklappt war. Sie ging ins Haus, eine kleine zarte Frau, noch hübsch, aber schon Hoffnungslosigkeit im Blick, während sie unter dem Gewicht des schläfrigen Kindes in ihrem Arm taumelte.
Am Abend dieses Tages saß sie allein auf der Veranda. Kennicott hatte anscheinend eine ärztliche Visite bei Frau Dave Dyer machen müssen.
Unter den stillen Zweigen und dem schwarzen Schleier der Dunkelheit war die Straße in Schweigen gehüllt. Nur einige Straßengeräusche, das rhythmische Zirpen der Grillen, das Surren der Mücken – Laute, die das Schweigen vertieften. Es war eine Straße hinter dem Ende der Welt, hinter den Grenzen der Hoffnung. Und wenn sie auch in alle Ewigkeit hiersitzen würde, nichts Tapferes, kein wirklicher Mensch würde vorüberkommen. Es war greifbar gewordene Langeweile, eine aus Verschlafenheit und Nutzlosigkeit gebaute Straße.
Myrtle Cass tauchte mit Cy Bogart auf. Sie kicherte und schrie, als Cy sie am Ohr kitzelte. Sie schlenderten im halbtanzenden Schritt Liebender, sie warfen die Beine oder machten einen langsamen Tanzschritt, und der feste Weg erklang in gebrochenem Zweivierteltakt. In ihren Stimmen war verschleierte Verwirrung. Plötzlich wurde für die Frau, die auf der Veranda des Doktorhauses schaukelte, die Nacht lebendig, und sie fühlte, daß überall im Dunkel ein glühendes Begehren keuchte, das sie sich entgehen ließ, als sie zurücksank, um zu warten, auf – Es mußte etwas sein.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
1
Bei einem Abendessen der Lustigen Siebzehn im August hörte Carola durch Frau Dave Dyer von »Elizabeth«.
Carola hatte Maud Dyer gern, weil diese in der letzten Zeit besonders liebenswürdig gewesen war; sie bereute offenbar die gereizte Unfreundlichkeit, die sie früher an den Tag gelegt hatte.
Frau Dyer schwatzte: »Oh, habt ihr schon von dem jungen Menschen gehört, der vor kurzem hergekommen ist, und den die Jungen ›Elizabeth‹ nennen? Er arbeitet bei Nat Hicks in der Schneiderwerkstatt. Er verdient sicher keine achtzehn Dollar in der Woche, aber weiß Gott! er ist die vollendete Dame! Er redet so fein, und, ach, wie er sich tut – Jacke mit Gürtel und Piquékragen mit 'ner goldenen Nadel, und Socken, die zur Krawatte passen, und wirklich – ihr werdet mir's nicht glauben, aber ich weiß es ganz genau – der Mensch, ihr wißt, er wohnt in der schäbigen alten Pension von Frau Gurrey, und er soll Frau Gurrey gefragt haben, ob er sich zum Abendessen einen Smoking anziehen soll! Stellt euch das mal vor! Könnt ihr das begreifen? Und er ist nichts weiter als 'n schwedischer Schneider – Erik Valborg heißt er. Aber er war 'ne Zeitlang bei 'nem Schneider in Minneapolis und will zeigen, daß er 'n richtiger Stadtmensch ist. Er soll auch den Leuten einreden wollen, daß er Dichter ist – er schleppt immer Bücher mit und tut so, als ob er drin lesen würde. Myrtle Cass sagt, sie hat ihn bei 'ner Tanzerei kennengelernt, und er hat überall rumgehimmelt und sie gefragt, ob sie Blumen und Gedichte und Musik und alles das gern hat; er hat getan wie 'n richtiger United-States-Senator; und Myrtle – das ist ein Luder, das Mädel, ha! ha! – die hat ihn zum Narren gehalten und hat ihn in Schuß gebracht, und tatsächlich, was meint ihr, hat er gesagt? Er hat gesagt, er kann keine ›geistige Kameradschaft‹ hier finden. Könnt ihr das begreifen? Stellt euch das bloß mal vor! 'n schwedischer Schneider! Die Jungens nennen ihn ›Elizabeth‹ und halten ihn an und fragen ihn nach den Büchern, die er angeblich liest, und er erzählt ihnen was, und sie ziehen ihn alle schrecklich auf, und er kapiert nie, daß sie ihn zum besten haben. Ach, das ist doch wirklich zu komisch!«
Die Lustigen Siebzehn lachten, und Carola lachte mit ihnen. Frau Jack Elder fügte hinzu, daß dieser Erik Valborg Frau Gurrey gestanden hätte, er würde »so gern Damenkleider entwerfen«. Man denke! Frau Harvey Dillon hatte ihn flüchtig gesehen, aber sie hielt ihn wirklich für schrecklich hübsch. Dem wurde augenblicklich von Frau B.J. Gougerling, der Frau des Bankiers, widersprochen. Frau Gougerling hatte sich, wie sie berichtete, diesen Valborg gut ansehen können. Sie und B.J. seien im Automobil an »Elizabeth« vorbeigekommen. Er habe schreckliche Kleider angehabt, an der Taille anliegend wie bei einem Mädel. Er hätte auf einem Felsen gesessen und habe nichts getan, als er aber das Automobil kommen hörte, habe er ein Buch aus der Tasche genommen und, um Eindruck zu schinden, so getan, als ob er läse. Und hübsch sei er gar nicht gewesen –
2
Sie war bei der Sonntagmorgen-Andacht in der Baptistenkirche und saß in einer feierlichen Reihe mit ihrem Mann, Hugh, Onkel Whittier und Tante Bessie.
Trotz Tante Bessies Nörgeleien gingen die Kennicotts selten in die Kirche. Der Doktor erklärte: »Freilich, die Religion ist 'ne schöne Sache – man muß sie haben, um die unteren Klassen in Ordnung zu halten – tatsächlich, sie ist das einzige, was auf diese Leute Eindruck macht und ihnen Respekt vor den Rechten des Besitzes beibringt. Und ich glaub' auch, diese Theologie ist in Ordnung; 'ne Menge gescheite alte Hühner haben sich das Ganze ausgedacht, und die haben mehr davon verstanden als wir.« Er glaubte an die christliche Religion und dachte nie an sie; er glaubte an die Kirche und kam selten in ihre Nähe; er war entsetzt von Carolas Glaubenslosigkeit und war nicht ganz sicher, was für ein Glaube es eigentlich war, der ihr fehlte.
Carola war eine unbequeme und eifernde Agnostikerin.
An diesem Augustsonntag hatte sie sich von der Ankündigung verlocken lassen, daß der Reverend Edmund Zitterel über das Thema predigen werde: »Amerika, blick deinen Problemen ins Auge!« Der Weltkrieg, in allen Völkern Arbeiter, welche die Industrie in die Hand zu bekommen wünschten, in Rußland die Möglichkeit einer Linksrevolution gegen Kerenski, das kommende Frauenstimmrecht – es schien eine Menge Probleme zu geben, zu deren Betrachtung der Reverend Herr Zitterel Amerika auffordern konnte.
Der Priester war ein magerer, brünetter, junger Mann mit Ponyfrisur. Er hatte einen schwarzen Sakkoanzug an, dazu eine lila Krawatte. Es stellte sich heraus, daß die einzigen Probleme, denen Amerika ins Auge zu schauen hatte, das Mormonentum und die Prohibition waren.
»… und hier glaube ich, müßte die Gesetzgebung einschreiten –«
Bei dieser Stelle wachte Carola auf.
Sie schlug drei Minuten tot, indem sie das Gesicht eines Mädchens vor ihr studierte und darüber nachdachte, wer das Mädchen sein könnte. Sie hatte sie bei Kirchen-Abendessen gesehen. Sie dachte daran, wie viele von den dreitausend Leuten im Ort sie nicht kannte; für wie viele von diesen der Thanatopsis und die Lustige Siebzehn Gipfel gesellschaftlicher Vornehmheit waren; wie viele unter Sorgen litten, die größer waren als die ihren – und mit mehr Mut getragen wurden.
Sie untersuchte ihre Nägel. Sie las zwei Lieder. Es befriedigte sie ein wenig, einen juckenden Knöchel zu reiben. Sie bettete den Kopf des Kindes an ihre Schulter, das jetzt, nachdem es eine Weile die Zeit auf dieselbe Weise wie seine Mutter totgeschlagen hatte, so glücklich war, einzuschlafen. Sie sah sich um. Sie dachte, es würde liebenswürdig sein, Frau Champ Perry zu grüßen.
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