Sinclair Lewis

Gesammelte Werke


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tröstete sie mit taubenähnlichen Gurrtönen, suchte sie mit verworrenen, hastig aufgegriffenen Worten zu beruhigen: »Oh, ich verstehe das ja so gut«, »Sie sind so lieb und gut«, »Sie können mir glauben, daß an allem, was Sie gehört haben, nicht das geringste ist«, »Oh, wirklich, ich weiß, wie lauter Will ist, und wie Sie sagen, so – so lauter …«

      Während ihrer Trostreden fand Carola plötzlich eine große philosophische Erkenntnis, eine Erklärung für die Hälfte aller vorsichtigen Reformen in der Geschichte. »Man muß nach dem Moralkodex der Masse leben, wenn man daran glaubt; aber wenn man nicht daran glaubt, dann muß man erst recht danach leben!«

      »Der Meinung bin ich durchaus nicht«, sagte Vida unsicher. Sie begann gekränkt auszusehen, und Carola ließ sie orakeln.

      Einunddreißigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      1

      An einem Sonntagnachmittag war Carola auf der Hinterveranda; sie hörte Frau Bogarts Hexenstimme:

      »… und es hat gar keinen Sinn, daß Sie's ableugnen … nein, das tun Sie nicht, Sie gehen sofort aus dem Haus raus … so was hab' ich ja in meinem Leben noch nicht gehört … so hat noch kein Mensch zu mir geredet … auf den Pfaden der Sünde und Schlechtigkeit … lassen Sie Ihre Kleider hier, weiß der Himmel, daß das mehr ist, als Sie verdienen … keine Frechheit mehr, oder ich hol' den Polizisten.«

      Carola sah Fern Mullins, ein Köfferchen in der Hand, mit gesenktem Kopf die Straße entlang eilen. Die Witwe stand da, die Hände in die Hüften gestemmt und belferte dem davoneilenden Mädchen nach. Sie ging mit Lärm ins Haus, kam wieder heraus, zupfte sich die Haube zurecht und marschierte davon. Die Art, wie Carola ihr jetzt nachsah, unterschied sich nicht von dem Fensterstarren des übrigen Gopher Prairie. Sie sah Frau Bogart erst zu Howlands, dann zu Cass' ins Haus gehen. Erst um die Abendbrotzeit kam die Witwe zu Kennicotts. Der Doktor ließ sie ein und begrüßte sie: »Na, also, wie geht's unserer guten Nachbarin?«

      Die gute Nachbarin stürmte ins Wohnzimmer, fuchtelte mit höchst salbungsvollen schwarzen Glacéhandschuhen herum und sprudelte hervor:

      »Freilich können Sie fragen, wie mir's geht! Ich weiß wirklich nicht, wie ich die schrecklichen Szenen von heute überstehen konnte – und die Unverschämtheiten, die ich mir von dem Weibsbild hab' anhören müssen, die Zunge sollt' man ihr 'rausschneiden –«

      »Ho! – Ho! Langsam!« brüllte Kennicott. »Wer ist denn die schlechte Person, Schwester Bogart? Setzen Sie sich. Reden Sie ruhig und erzählen Sie uns das Ganze.«

      »Ich kann mich nicht setzen, ich muß schnell nach Haus, aber ich könnte mich nicht um meine eigenen egoistischen Sachen kümmern, bevor ich Sie gewarnt hab', und der liebe Himmel weiß, daß ich mir keinen Dank davon erwarte, daß ich die Stadt vor ihr warne, es gibt immer so viel Böses in der Welt, das die Leute nicht sehen wollen, oder sie wissen's auch gar nicht zu schätzen, wenn man sie davor beschützen will – Und wie sie sich bei Ihnen und Carrie eingedrängt hat, wie oft hab' ich sie nicht beobachtet, und, dem Himmel sei Dank, sie ist noch rechtzeitig erkannt worden, bevor sie noch mehr Unheil hat anrichten können – es bricht mir ganz einfach das Herz und bringt mich um, wenn ich dran denk', was sie vielleicht schon alles getan hat, wenn auch manche von uns, die alles mögliche wissen und verstehen –«

      »Halt! Von wem reden Sie denn?«

      »Sie redet von Fern Mullins«, warf Carola, durchaus nicht liebenswürdig, ein.

      »He?«

      Kennicott war ungläubig.

      »Freilich red' ich von ihr! Und von Herzen dankbar können Sie sein, daß ich ihr rechtzeitig draufgekommen bin, bevor sie Sie in was reingezogen hat, Carola; nämlich, wenn Sie auch meine Nachbarin und Wills Frau und 'ne gebildete Dame sind, ich muß Ihnen sagen, Carola Kennicott, daß Sie nicht immer so viel Achtung – und auch nicht Verehrung – Sie halten sich nicht an die guten alten Wege, wie Gott sie uns in der Bibel gezeigt hat, und wenn's natürlich auch gar nichts macht, mal ordentlich zu lachen, und ich weiß, daß nichts wirklich Schlechtes an Ihnen ist, aber trotzdem fürchten Sie nicht Gott …«

      Bevor sie mit ihrer Geschichte herauskam, keifte sie noch fünf Minuten weiter. Die wirkliche Geschichte war einfach, betrüblich und unwichtig. Bei Einzelheiten war Frau Bogart unsicher und wurde böse, daß man sie danach fragte.

      Fern Mullins und Cy waren am Abend vorher zu einem Scheunentanz aufs Land gefahren. Beim Tanz hatte Cy Fern geküßt – das gestand sie ein. Cy hatte eine Flasche Whisky aufgetrieben; er sagte, er wisse nicht, wo er sie hergenommen habe; Frau Bogart ließ durchblicken, daß Fern sie ihm gegeben hätte: Fern selbst wolle sich nicht nehmen lassen, daß er sie aus dem Mantel eines Farmers gestohlen hätte – was, tobte Frau Bogart, offensichtlich eine Lüge sei. Er hatte sich sinnlos betrunken. Fern hatte ihn nach Hause gefahren; ihn, in einer jämmerlichen Verfassung, auf der Veranda abgeladen.

      Noch nie vorher sei ihr Junge betrunken gewesen, kreischte Frau Bogart. Als Kennicott brummte, gestand sie: »Na ja, ein- oder zweimal hab' ich vielleicht Alkohol an seinem Atem gerochen.« Sie gab auch zu, daß er einige Male erst frühmorgens nach Hause gekommen sei. Aber unmöglich sei er dabei betrunken gewesen, denn er habe immer die besten Entschuldigungen gehabt: die anderen Jungen hatten ihn dazu verführt, an den See zu gehen und bei Fackellicht Hechte zu speeren, oder er war »in einem Auto gewesen, dem das Benzin ausging«. Auf jeden Fall war ihr Junge noch nie vorher in die Hände eines »verdorbenen Frauenzimmers« gefallen.

      Heute früh, als sie die beiden konfrontiert hätte, habe Cy mannhaft eingestanden, daß Fern an allem schuld sei, die Lehrerin nämlich – seine eigene Lehrerin – hatte ihn aufgefordert, zu trinken. Fern hatte versucht, das zu leugnen.

      »Dann«, schnatterte Frau Bogart, »dann hat das Frauenzimmer die Unverschämtheit gehabt, mir zu sagen: ›Wozu hätt' ich den schmierigen Bengel betrunken machen sollen?‹ ›Wozu?‹ hab' ich gesagt. ›Wozu? Ich will Ihnen sagen, wozu! Hab' ich denn nicht selber gesehen, wie Sie sich an alles, was Hosen anhat und Zeit verschwenden und auf Ihre Unverschämtheiten achtgeben könnte, ranmachen? Hab' ich nicht gesehen, was Sie immer mit Ihren Beinen treiben, bei den kurzen Röcken, die Sie anhaben, und wie Sie immer so mädchenhaft und tralala tun, wenn Sie über die Straße gehen?‹«

      Carola wurde bei dieser Schilderung von Ferns munterem Wesen sehr übel, aber noch übler wurde ihr, als Frau Bogart zu verstehen gab, daß niemand wissen könne, was sich zwischen Fern und Cy vor der Heimfahrt abgespielt habe. Ohne den Vorgang genau zu beschreiben, ließ das alte Weib mit der Kraft ihrer lüsternen Phantasie an dunkle Stellen abseits von den Laternen denken, fern von dem plumpen Gefiedel und den stampfenden Tanzschritten in der Scheune. Carola war zu elend, um zu unterbrechen. Kennicott rief: »Um Gottes willen, hören Sie auf! Sie haben ja keine Ahnung, was geschehen ist. Sie haben uns noch keinen einzigen Beweis dafür gegeben, daß Fern was anderes ist, als ein wirbelköpfiges junges Ding.«

      »Hab' ich nicht, so? Was sagen Sie aber dazu? Ich nehme kein Blatt vor den Mund und sag' zu ihr: ›Haben Sie von dem Whisky getrunken, den Cy gehabt hat oder nicht?‹ und da sagt sie: ›Ich glaub', ich hab' 'nen Schluck genommen – Cy hat's durchaus haben wollen‹, sagt sie. So viel gibt sie selber zu, da können Sie sich vorstellen –«

      »Beweist das, daß sie eine Dirne ist?« fragte Carola.

      »Carrie! Nehmen Sie nie wieder so ein Wort in den Mund!« jammerte die empörte Puritanerin.

      »Also, beweist das, daß sie ein schlechtes Frauenzimmer ist, wenn sie einen Schluck Whisky getrunken hat? Das hab' ich selber auch schon gemacht?«

      »Das ist was anderes. Nicht daß ich's für gut halte, daß Sie's getan haben. Wie heißt's in der Schrift? ›Starkes Getränk macht wild!‹ Aber das ist sicher was ganz andres, als wenn 'ne Lehrerin mit einem von ihren eigenen Schülern trinkt.«