Sinclair Lewis

Gesammelte Werke


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»Schön. Wir gehen. Du und ich. Das Kind lassen wir hier bei Tante Bessie.«

      »Gleich!«

      »Na ja, sobald wir wegkönnen. Jetzt red nicht mehr. Stell' dir nur vor, wir wären schon weg.« Er streichelte ihr Haar, und erst nach dem Abendessen sprach er wieder davon: »Es war mein Ernst mit Kalifornien, aber ich glaube, 's wird besser sein, wir warten noch drei Wochen oder so was, bis ich einen jungen Menschen kriegen kann, der vom Militär entlassen ist und meine Praxis führen kann. Und wenn die Leute klatschen, brauchst du ihnen nicht Wasser auf die Mühle zu geben, indem du wegläufst. Kannst du's nicht aushalten und sie noch drei Wochen oder so ertragen?«

      »Ja«, sagte sie ganz leer.

      4

      Vier Wochen später. Dämmerung an einem verschneiten Dezembernachmittag. Der Schlafwagen, der in Kansas City an den kalifornischen Zug angeschlossen wird, rollte aus St. Paul heraus. Carola konnte nichts sehen als graue Felder, Felder, die sie den ganzen Weg von Gopher Prairie begleitet hatten. Vorne war Dunkel.

      »Eine Stunde lang, in Minneapolis, muß ich in der Nähe von Erik gewesen sein. Er ist noch dort, irgendwo. Wenn ich zurückkomme, wird er schon weg sein. Nie werde ich wissen, wohin er gegangen ist.«

      Als Kennicott Licht machte, begann sie traurig die Illustrationen in einem Filmmagazin anzusehen.

      Dreiunddreißigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      1

      Sie reisten dreieinhalb Monate. Sie sahen das Grand Canyon, Santa Fé, kamen von El Paso auch nach Mexiko. Sie fuhren von San Diego und La Jolla nach Los Angeles, Pasadena, Riverside, durch Ortschaften mit dickbäuchigen Missionstürmen und Orangenhainen; sie sahen sich Monterey und San Francisco und einen Mammutbaumwald an. Sie badeten in der Brandung, kletterten auf Berge und tanzten, sie sahen Polowettspiele und Filmaufnahmen, sie schickten einhundertsiebzehn Ansichtskarten nach Gopher Prairie, und einmal, auf einer Düne am dunstigen Meer, als sie allein spazieren ging, stieß Carola auf einen Künstler, er sah auf zu ihr und sagte: »Es ist zu grauslich naß zum malen; setzen Sie sich her, reden wir miteinander«, und so lebte sie zehn Minuten in einem Roman.

      An einem Apriltag lachte Kennicott: »Was wird Hugh wohl sagen, wenn er uns sieht?«

      Drei Tage später kamen sie in einem Schneesturm nach Gopher Prairie.

      2

      Sie gab sich Mühe, zufrieden zu sein – ein Widerspruch in sich selbst. Mit fanatischem Eifer reinigte sie den ganzen April hindurch das Haus. Sie strickte einen Sweater für Hugh. Sie arbeitete eifrig im Roten Kreuz. Sie schwieg, wenn Vida tobte, obwohl Amerika den Krieg ebensosehr hasse wie immer, müßte man doch in Deutschland eindringen und jeden einzelnen Mann totschlagen, weil jetzt bewiesen sei, daß es im deutschen Heer keinen einzigen Soldaten gebe, der nicht Gefangene kreuzige und Kindern die Hände abschneide.

      Carola war freiwillige Krankenpflegerin, als Frau Champ Perry plötzlich an einer Lungenentzündung starb.

      Champ brach zusammen. Sein Rheumatismus wurde schlimmer. In den Zimmern über dem Kaufmannsladen schwieg alles. Er konnte seine Arbeit als Einkäufer am Speicher nicht versehen. Farmer, die mit Schlittenladungen Weizen hereinkamen, klagten darüber, daß Champ nicht ablesen könne, daß er immer jemand hinter sich im Dunkel der Kisten zu beobachten scheine. Man sah ihn durch Seitengassen schleichen, wie er mit sich selbst redete, ungesehen bleiben wollte, sich endlich zum Friedhof hinausschleppte. Einmal ging Carola ihm nach und fand den rauhen, phantasielosen, alten Mann auf dem Schnee des Grabes liegen, die dicken Arme über den rohen Erdhügel gebreitet, als wollte er sie vor der Kälte schützen, sie, die er sechzig Jahre lang jede Nacht sorgfältig zugedeckt hatte, die jetzt allein war, unbehütet.

      Die Speichergesellschaft, deren Direktor Ezra Stowbody war, ließ ihn gehen. Die Gesellschaft, so erklärte Ezra Carola, hatte keinen Pensionsfond.

      Sie bemühte sich, ihm die Postmeisterstellung zu verschaffen, die, weil die ganze Arbeit von Hilfskräften getan wurde, der einzige Ruheposten in der Stadt war, der einzige Lohn für politische Makellosigkeit. Doch es stellte sich heraus, daß Herr Bert Tybee, der frühere Mixer, Ansprüche auf die Postmeisterstellung erhob.

      Zu ihrem Trost gab Lyman Cass Champ Unterkunft als Nachtwächter. Die kleinen Jungen spielten Champ viele Streiche, wenn er vor der Mühle einschlief.

      3

      Etwas Ähnliches wie Freude empfand sie, als Major Raymon Wutherspoon zurückkehrte. Er war gesund, aber noch schwach von seiner Gasvergiftung; er war entlassen worden und kam als erster Kriegsveteran heim. Man erzählte sich, er habe Vida mit seinem unvorhergesehenen Kommen überrascht, Vida sei ohnmächtig geworden, als sie ihn gesehen hätte, und eine Nacht und einen Tag lang wollte sie ihn nicht mit der Stadt teilen. Als Carola die beiden sah, hatte Vida nur für Rayniie Augen und ging nie so weit von ihm weg, daß sie seine Hand hätte auslassen müssen. Ohne zu begreifen warum, fühlte Carola sich durch diese heftige Leidenschaftlichkeit belästigt. Und Raymie – nein, das war nicht er, das war ein strengerer Bruder Raymies, dieser Mann mit der knappsitzenden Bluse, mit den Achselstücken und den Stiefeln. Sein Gesicht sah anders aus, sein Mund war gestraffter. Das war nicht Raymie; das war Major Wutherspoon.

      Nach einer Woche wurde Major Wutherspoon zum Leiter des Bon Ton gemacht. Harry Haydock wollte sich dem halben Dutzend Filialen widmen, die er in Landstraßensiedlungen errichtete. Harry würde in der nächsten Generation der reichste Mann der Stadt sein, Major Wutherspoon würde mit ihm hochkommen, und Vida jubilierte, obgleich sie es bedauerte, den größten Teil ihrer Roten-Kreuz-Arbeit aufgeben zu müssen. Ray brauchte noch Pflege, erklärte sie.

      Als Carola ihn ohne Uniform sah, in einem Pfeffer-und-Salz-Anzug, mit einem neuen braunen Filzhut, war sie enttäuscht. Er war nicht Major Wutherspoon; er war Raymie.

      Einen Monat lang liefen ihm die Jungen in der Straße nach, nannte jedermann ihn Major, aber das wurde bald in Maje verkürzt, und die kleinen Jungen sahen nicht mehr von ihren Murmeln auf, wenn er vorüberging.

      4

      Die Kriegspreise für Weizen brachten es mit sich, daß die Stadt aufblühte.

      Das Geld für den Weizen blieb nicht in den Taschen der Farmer; die Städte waren dazu da, dafür zu sorgen. Farmer in Iowa verkauften ihr Land zu vierhundert Dollar für den Morgen und kamen nach Minnesota. Aber wo immer man kaufte oder verkaufte oder Hypotheken aufnahm, luden die Städter sich selbst zum Schmaus ein – Müller, Grundstückmakler, Anwälte, Kaufleute und Dr. Will Kennicott. Sie kauften Land zu hundertfünfzig, verkauften es am nächsten Tag zu hundertsiebzig und kauften wieder. In drei Monaten verdiente Kennicott siebentausend Dollar, fast viermal soviel, als die Gesellschaft ihm für das Heilen der Kranken bezahlte.

      Im Frühsommer begann ein Propagandafeldzug. Der Handelsklub entschied, Gopher Prairie sei nicht nur ein Weizenzentrum, sondern auch der ideal gelegene Ort für Fabriken, Sommervillen und staatliche Institute. Geleitet wurde der Feldzug von Herrn James Blausser, der vor kurzem in die Stadt gekommen war, um Landspekulationen zu treiben. Herr Blausser war als betriebsamer Mann bekannt. Er ließ sich gern »Ehrlicher Jim« nennen. Er war ein plumper, linkischer, unmanierlicher Mann, der gern Spaße machte, er hatte kleine Augen, ein gesundes, derbes Aussehen, große rote Hände und auffallende Anzüge. Er hatte ein Auge für alle Frauen. Er war der erste Mann in der Stadt, der nicht empfindsam genug war, Carolas Isoliertheit zu fühlen. Er legte ihr den Arm um die Schulter, während er zu Kennicott mit freundlicher Herablassung sagte: »Nettes kleines Weibchen, muß ich sagen, Doktor«, und als sie kühl antwortete: »Vielen Dank für die Anerkennung«, blies er ihr in den Hals und wußte nicht, daß er beleidigt worden war.

      Die Stadt begrüßte