Sinclair Lewis

Gesammelte Werke


Скачать книгу

»gehörig schmissiger und gemütlicher seien als dieser protzige Osten«.

      Allein sie fand ein Washington, das nichts mit der Hauptstraße zu tun hatte.

      Guy Pollock schrieb einem Vetter, der jetzt Hauptmann war, einem liebenswürdigen, freundlichen jungen Menschen, der Carola zu Tanztees mitnahm und mit ihr lachte; sie hatte ja immer jemand gebraucht, mit dem sie lachen könnte. Der Hauptmann machte sie mit der Sekretärin eines Abgeordneten bekannt, einer zynischen jungen Witwe, die viele Bekannte in der Marine hatte. Durch sie lernte Carola Marineoffiziere und Majore, Journalisten, Chemiker, Geographen und Finanzexperten aus den Ämtern kennen, und eine Lehrerin, die im Hauptquartier der kriegerischen Frauenrechtlerinnen ein und aus ging. In dieses Hauptquartier nahm die Lehrerin sie mit. Carola wurde nie eine hervorragende Frauenrechtlerin. Man erkannte sie lediglich als tüchtige Adressenschreiberin an. Aber sie wurde gleichmütig von dieser Familie freundlicher Frauen aufgenommen, die, wenn sie nicht von Pöbelhaufen bedrängt oder verhaftet wurden, Tanzstunden besuchten, Picknicks am Chesapeake Canal veranstalteten oder über die Politik der American Federation of Labor sprachen.

      Zusammen mit der Sekretärin des Abgeordneten und der Lehrerin mietete Carola eine kleine Wohnung. Hier war ihr Heim, hier kam sie mit ihren Menschen zusammen. Obgleich es den größten Teil ihres Gehalts verschlang, hielt sie sich eine ausgezeichnete Pflegerin für Hugh. Sie selbst brachte ihn zu Bett und spielte an Feiertagen mit ihm. Manches Mal war sie über diese Mädchen mit ihren Zigaretten und ihrem unheimlichen Wissen ebenso empört, wie sie sich über Gopher Prairie empört hatte.

      3

      Die graphische Darstellung, die Carolas Fortschritte verzeichnet, ist nicht leicht zu lesen. Die Kurven sind gebrochen und wechseln oft die Richtung; häufig sinken sie, statt zu steigen, in gebrochene Linien. Einige Züge aber lassen sich verfolgen.

      Unglücklichen Frauen ist es gegeben, ihre Empfindsamkeit durch zynischen Klatsch, durch Jammern, durch Religionen (Hochkirche oder »Neudenken«) oder durch einen Nebel von Unbestimmtheiten zu schützen. Carola hatte sich in keine dieser Möglichkeiten vor der Wirklichkeit geflüchtet, aber Gopher Prairie hatte sie, die zärtlich und heiter war, ängstlich gemacht. Sogar ihre Flucht war nichts weiter als der vorübergehende Mut des Entsetzens gewesen. Was sie in Washington gewann, war nicht Kenntnis von Amtsmethoden und Gewerkschaften, sondern erneuter Mut, jene freundliche Zufriedenheit, die Gleichgewicht heißt. Was sie von Arbeiten sah, die sich auf Millionen von Menschen und viele Völker auswirkten, reduzierte die Hauptstraße von aufgeblasener Wirklichkeit auf ihre tatsächliche Bedeutungslosigkeit. Sie konnte nie wieder so viel erschrockene Ehrfurcht vor der Macht empfinden, mit der sie selbst die Vidas und Blaussers und Bogarts ausgestattet hatte.

      In ihrer Arbeit und in ihrem Zusammensein mit Frauen, die Frauenrechtlerinnen-Vereinigungen in feindseligen Städten organisiert oder politische Häftlinge verteidigt hatten, gewann sie ein wenig Objektivität; erkannte sie, daß sie ebenso empfindlich persönlich gewesen war wie Maud Dyer.

      Und warum, so begann sie sich zu fragen, wütete sie über Individuen? Nicht Individuen, sondern Institutionen sind die Feinde, und diese tun gerade den Jüngern am meisten weh, die ihnen am hingebungsvollsten dienen. Sie verbergen ihre Tyrannei unter hundert Masken und pompösen Namen, wie Gesellschaft, Familie, Kirche, Geschäft, Partei, Land, weiße Rasse; und der einzige Schutz gegen sie, erkannte Carola, ist Lachen ohne jede Bitterkeit.

      4

      Seit einem Jahr lebte sie in Washington. Sie war ihrer Büroarbeit müde. Diese war erträglich, viel erträglicher als Hausarbeit, aber sie brachte kein Erleben.

      Eines Abends sah sie in der Connecticut Avenue plötzlich Harry und Juanita Haydock auf sich zukommen. Das Herz stand ihr vor Freude still, sie begrüßte sie mit stürmischer Zärtlichkeit und bedauerte aufrichtig, daß sie schon um neun Uhr abends wieder abreisen mußten.

      »Will hat mir geschrieben, daß dieser Herr Blausser nicht mehr in der Stadt ist. Wie ist es denn mit ihm gegangen?«

      »Großartig! Großartig! Ein kolossaler Verlust für die Stadt. Das war mal ein Mensch, der wirklichen Sinn für die Allgemeinheit hatte!«

      Sie entdeckte, daß sie jetzt über Herrn Blausser überhaupt keine Ansicht mehr hatte, und sagte mitfühlend:

      »Werden Sie den Propagandafeldzug für die Stadt weiterführen?«

      Harry rief eifrig: »Also, wir haben ihn nur auf einige Zeit unterbrochen, aber – freilich, klar! Hören Sie, hat der Doktor Ihnen von dem Glück geschrieben, das B. J. Gougerling in Texas bei der Entenjagd gehabt hat?«

      5

      Einmal saß sie mit dem Hauptmann auf dem Dach des Powhatan Hotels. Ein Mann mit einem breiten Rücken, den sie kannte, saß in ihrer Nähe und bestellte lärmend unwahrscheinliche »alkoholfreie Getränke« für zwei Mädchen.

      »Oh! Ich glaube, ich kenne ihn«, murmelte sie.

      »Wen? Dort drüben? Ach, Bresnahan, Percy Bresnahan.«

      »Ja, Sie kennen ihn? Was für ein Mensch ist er?«

      »Er ist ein gutmütiger Trottel. Ich habe ihn ganz gern und glaube, als Automobilverkäufer ist er ein Prachtkerl. Aber im Departement für Flugwesen hat er nichts zu suchen. Er gibt sich alle mögliche Mühe, nützlich zu sein, aber er weiß nicht – er weiß nicht das geringste. Ziemlich rührend: ein reicher Mann fuhrwerkt herum und möchte nützlich sein. Wollen Sie mit ihm sprechen?«

      »Nein – nein – ich glaube nicht.«

      6

      Sie war im Kino. Der Film langweilte sie, sie wollte gehen.

      Auf der Leinwand erschien in der Rolle eines Komponisten ein Schauspieler namens Eric Valour. Erschrocken erkannte sie, daß es Erik Valborg war.

      Er hatte eine farblose Rolle und spielte weder gut noch schlecht. Sie dachte: »Ich hätte so viel aus ihm machen können –« Sie führte ihren Gedanken nicht zu Ende.

      Sie ging nach Hause und las Kennicotts Briefe. Sie waren ihr steif und langweilig vorgekommen, doch jetzt entdeckte sie in ihnen eine Persönlichkeit, eine Persönlichkeit, ganz anders als der schmachtende junge Mann in der Samtjoppe, der an einer Atrappe in einem Ateliersalon Klavier spielte.

      7

      Kennicott besuchte sie das erstemal im November, dreizehn Monate nach ihrer Ankunft in Washington. Als er ihr mitteilte, daß er kommen werde, wußte sie nicht recht, ob sie den Wunsch hatte, ihn zu sehen. Es war ihr lieb, daß er selbst die Entscheidung getroffen hatte.

      Sie bekam zwei Tage Urlaub vom Amt.

      Sie sah ihn aus dem Zug kommen, ruhig, sicher, seinen schweren Koffer tragend, und war scheu – er war so schwer zu behandeln. Sie küßten einander unsicher und sagten gleichzeitig: »Du siehst gut aus; wie geht's dem Kind?« und: »Du siehst schrecklich gut aus, Lieber; wie geht alles?«

      Er brummte: »Ich will dich in nichts stören, was du mit deinen Freunden oder sonst vor hast, aber wenn du Zeit hast, würd' ich mir gern Washington ansehen und einige Zeit nicht an meine Arbeit denken.«

      Er erzählte ihr die Neuigkeiten: man arbeitete an der Fundamentierung eines neuen Schulgebäudes, Vida »ging ihm auf die Nerven mit ihrer Art, wie sie immer den Maje ansah«, der arme Chet Dashaway war bei einem Automobilunfall ums Leben gekommen.

      Am Abend, beim Essen, wurde aus seiner Herzlichkeit und Feiertagsfreude an allem Nervosität; er wollte alle möglichen interessanten Dinge wissen, so unter anderem, ob sie noch immer verheiratet wären. Aber er stellte keine Fragen und sprach nicht von ihrer Rückkehr. Er räusperte sich und sagte: »Ach ja, hör mal, ich hab' den alten Apparat wieder ausprobiert. Findest du die Aufnahmen da nicht ganz gut?«

      Er schob ihr dreißig Bilder von Gopher Prairie und seiner Umgebung hin. Es fiel ihr