Tugend, Recht und Ordnung: Johannes Calvin in Genf
Mittlerweile kennen Sie schon die Lebenswege der kleinen zukünftigen Gelehrten des ausgehenden Mittelalters. Nicht anders als bei Martin Luther (siehe Kapitel 2) oder Huldrych Zwingli (siehe weiter vorn in diesem Kapitel) verlief auch Johannes Calvins (französisch eigentlich: Jean Cauvin) frühe Ausbildung.
Im französischen Noyon wurde Johannes Calvin 1509 geboren. Sein Vater war am Ort für die Kirchenfinanzen zuständig. Dann das Übliche: Lateinschule, später Studium der »sieben freien Künste« in Paris und an der Universität Sorbonne weiter bis zum Magister Artium. Und wieder der Vater! Der hatte sich mittlerweile mit seinem Arbeitgeber überworfen und wurde dafür »exkommuniziert« (aus der Kirche ausgeschlossen). Nicht verwunderlich, dass der Vater dann gegen ein Theologiestudium war. Wieder einmal wurde es also für einen jungen Mann ein Jurastudium. Ohne das Interesse an der Theologie zu verlieren, brachte es Calvin bis zum »Doktor der Rechte« (1533).
Calvin war immer recht schweigsam gewesen, was sein persönliches Leben anging (wobei »schweigsam« im Abstand von fast 500 Jahren meist bedeutet, dass er nicht darüber schrieb). Aber viel später in seinem Leben, im Jahre 1557, schrieb er einmal von seiner »plötzlichen Bekehrung (subita conversio)«. Mal wieder streiten sich die Gelehrten bis heute, wann genau das war, aber wahrscheinlich im Frühjahr 1533. Zu jenem Zeitpunkt fand also Calvins Wendung zum evangelischen Glauben und damit zur Reformation statt.
Genf, die erste Runde: Reformator wider Willen?
Zwar waren die Gedanken der Reformation zu jener Zeit auch bis nach Frankreich gedrungen, doch wurden die evangelischen Christen dort verfolgt. Calvin begleitete die französische Reformation nur als Zuschauer und Autor.
Bald brachte er sich durch sein Eintreten für die Reformation in Schwierigkeiten und lebte als Flüchtling unter falschem Namen in Frankreich, bis er 1535 nach Basel ging. Dort beendete er die Abfassung seines Buches, der Institutio Christianae Religionis – Unterricht in der christlichen Religion. Durch die Institutio wurde Calvin in kurzer Zeit ein bekannter Mann. Die erste Ausgabe wurde in kleinem Format gedruckt, damit die verfolgten Protestanten sie am Körper versteckt leicht mit sich tragen konnten. Diese Arbeit orientierte sich noch sehr an Martin Luther. Johannes Calvin arbeitete an diesem Buch aber sein Leben lang weiter. Die letzte Ausgabe zu seinen Lebzeiten erschien 1559 und war zu jener Zeit zu einem Lehrbuch in vier Teilen in 80 Kapiteln angewachsen.
Calvins Institutio (Unterricht in der christlichen Religion) wird auch heute noch gedruckt (zuletzt Neukirchen, 2008). Für etwas über 50 Euro bekommt man 900 Seiten Lesestoff, über den man einige Jahrzehnte grübeln kann. Viele andere Werke von Calvin findet man zusammengefasst in einer neueren zehnbändigen Studienausgabe, herausgegeben von Eberhard Busch (Neukirchen, 2012). Die Bände sind auch einzeln erhältlich. Wer nicht gleich Calvin-Fachmann werden möchte, kann sich erst mal mit dem Calvin-Lesebuch (Herausgeber Matthias Freudenberg und Georg Plasger, Neukirchen, 2009) begnügen.
Nach seiner Zeit in Basel ging Calvin eine Weile nach Italien. Von dort wollte er nach Straßburg, machte aber in Genf halt. Dort hatte ein anderer Franzose schon damit begonnen, die Reformation durchzusetzen: Guillaume Farel (1489–1565). Zwar konnte Farel erste Erfolge verzeichnen (so war zum Beispiel seit 1535 in Genf die Messe verboten), aber allein fühlte er sich der Sache nicht gewachsen. Da kam ihm der berühmte Verfasser der Institutio gerade recht. Calvin hatte keine große Lust zu bleiben, aber Farel hatte dann doch überzeugende Argumente: »Gottes Fluch wird dich treffen, wenn du dem Werke des Herrn deine Hilfe versagst und dich mehr suchst als ihn!« Das fand Calvin dann doch sehr überzeugend und blieb in Genf.
Viel Erfolg war den beiden aber nicht beschieden: Sie gerieten mit dem Stadtrat über die Art und Weise der Kirchenführung aneinander. So setzte man Calvin und Farel nach zwei Jahren vor die Tür. Sie mussten die Stadt verlassen. Farel kehrte nicht mehr zurück, Calvin ging nach Straßburg – nach zwei Jahren Umweg kam er also doch noch dort an. Straßburg war zu jener Zeit ein Zentrum der Reformation, es beherbergte viele evangelische Flüchtlinge. Calvin arbeitete gern dort unter diesen Menschen, die es mit ihrem Glauben wirklich ernst meinten. In Straßburg kam er in näheren Kontakt mit der Wittenberger Reformation. Bei Religionsgesprächen traf er sogar Philipp Melanchthon und die beiden ruhigen, systematischen Denker verstanden sich gut.
Der Genfer Stadtrat bekam die Reformation allerdings ohne Hilfe nicht recht in den Griff. Im Jahre 1541 klopften die Genfer wieder an Calvins Tür und baten ihn zurückzukehren.
Genf, die zweite Runde: Gottes Reich in Genf?
Calvin wollte sich nicht den Launen der Stadträte oder politischen Mehrheiten ausliefern. Er stellte Bedingungen. Calvin forderte eine Kirchenordnung in seinem Sinne, strenge Kirchenzucht und die Unterweisung der Gläubigen nach seinem Katechismus. Was hatte es damit auf sich?
Die Kirchenordnung setzte über die Gemeinde Pastoren, Lehrer, Älteste und Diakone.Den Pastoren war die Predigt anvertraut, außerdem die »Seelsorge«, das heißt, sie kümmerten sich auch um die persönlichen Nöte der Gläubigen.Den Lehrern war der Unterricht anvertraut, von der einfachen Schule bis zur Universität.Die Ältesten bestanden aus Mitgliedern des Rates und mussten die Kirchenzucht überwachen. Sie beaufsichtigten Bezirke und hatten zum Beispiel auch das Recht, in ein Haus einzudringen, um den »sittlichen Zustand« der Bewohner zu überprüfen.Die Diakone kümmerten sich um die Armen.
Strenge Kirchenzucht sollte geübt werden, das heißt, die kirchliche Ordnung sollte mit strengen Mitteln aufrechterhalten oder im Falle eines Verstoßes wiederhergestellt werden. Bestraft wurden zum Beispiel Kartenspielen, Tanzen und das Fehlen beim Gottesdienst. Auf Ehebruch oder auch das Leugnen göttlicher Wahrheiten stand die Todesstrafe. Die alten Genfer Namen wurden verboten, Kinder durften nur noch biblische Namen erhalten.
Außerdem verfasste Calvin einen Katechismus (ein Unterrichtsbuch über den christlichen Glauben), nach dem die Gläubigen unterrichtet werden sollen.
Ob es die Feuerlöschordnung war oder Vorschriften für die Bauaufsicht oder den Ablauf der Gottesdienste: Calvin mischte sich überall ein. Soweit es an ihm hing, wollte er die Stadt Genf zu einem wirklich christlichen Gemeinwesen machen.
Natürlich hatte er auch Gegner und viele seiner Maßnahmen waren auch darauf gerichtet, seine Widersacher zu schwächen oder auszuschalten.
Immer wieder gab es politische Auseinandersetzungen, in denen Calvin Sieger blieb. Besonders gegen theologische Gegner und sittliche Verfehlungen ging er mit äußerster Härte vor. Manche Gegner von Calvin kamen nur mit dem Leben davon, weil der Rat der Stadt sich hier und da gegen Calvin durchsetzte und Milde walten ließ. Unsittliches Verhalten, Unglaube und theologisch abweichende Ansichten empfand Calvin als Angriffe auf die Ehre Gottes, die nicht geduldet werden durften.
Die letzte größere Krise musste Calvin im Jahre 1555 bestehen. Zu jener Zeit wurden französische Protestanten, die auf der Flucht vor Verfolgung in Frankreich nach Genf gekommen waren, immer einflussreicher. Mit dieser Rückendeckung erstarkte Calvins Position weiter, wieder mussten Calvins Gegner eine Niederlage einstecken, viele wurden wegen Verschwörung und Aufruhr verhaftet und gefoltert. Es folgten Enteignungen, Verbannungen und einige Todesurteile. Bis zu seinem Tode 1564 war Calvins Macht in Genf nun ungebrochen.
Interessant ist, dass Calvin in all diesen Jahren »Ausländer« blieb. Er konnte in Genf kein Amt bekleiden und hatte keine Bürgerrechte. Erst wenige Jahre vor seinem Tod (an seinem 50. Geburtstag) wurde er offiziell Bürger von Genf mit allen Rechten. Seine politischen »Kämpfe« hatte er hinter den Kulissen geführt.
Und doch – Freiheit!
Wenn man nun die Geschichte von Calvin in Genf vor Augen hat, kann man sich natürlich fragen, wovon denn Calvins Reformation