Aufgrund der wachsenden Bedeutung des Online-Handels und der zunehmenden Internationalisierung von Geschäftsmodellen ist zu erwarten, dass die Anwendung des Kartellrechts auf vertikale Vereinbarungen weiter an Relevanz gewinnen wird.[6] So führt das Wachstum des Online-Handels im Allgemeinen und der Bedeutungszuwachs von Online-Marktplätzen und Preisvergleichsportalen im Besonderen auf Seiten der Hersteller zu einem gesteigerten Bedürfnis, ihre Geschäftsmodelle und Marken vor Preiserosionen infolge des Online-Handels zu schützen.[7]
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Die zunehmende Präsenz von digitalen Plattformen wie Online-Marktplätzen und immer neuen Geschäftsmodellen begründet ferner die Herausforderung, sich wandelnde vertikale Wettbewerbsbeschränkungen überhaupt als solche zu erfassen und richtig zu bewerten. Die insoweit bestehenden Schwierigkeiten werden durch die inkonsistente Behandlung von sog. Bestpreisklauseln der Hotelportale (HRS, Booking und Expedia) durch die mitgliedstaatlichen Kartellbehörden sowie die im Zeitverlauf schwankende Rechtsprechung des OLG Düsseldorf[8] veranschaulicht. Kartellrechts-Compliance in vertikalen Geschäftsbeziehungen ist vor diesem Hintergrund stets eine besondere Herausforderung.
2. Vertikale Vereinbarungen als Compliance-Herausforderung
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Anders als im Bereich horizontaler Hardcore-Beschränkungen sind prägnante „Dos and don‘ts“ (keine Preis-, Gebiets- und Quotenabsprachen mit Wettbewerbern etc.) hier weniger geeignet, die Beachtung kartellrechtlicher Grenzen sicherzustellen, ohne zugleich unternehmerische Potenziale unnötig zu beschneiden. Denn abgesehen von wenigen klaren Fällen (z.B. Preisbindung, Totalverbot des Online-Vertriebs) setzt die rechtliche Bewertung einzelner Maßnahmen eine komplexe Analyse der tatsächlichen Wirkungen vertikaler Vereinbarungen auf den Wettbewerb sowie der Möglichkeit einer Freistellung im Einzelfall voraus. Dies gilt umso mehr, als der „richtige“ Umgang mit vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen gerade im Bereich E-Commerce eine Vielzahl bislang ungeklärter und im internationalen Kontext auch unterschiedlich gehandhabter Rechtsfragen aufwirft.[9] Das BKartA empfiehlt Unternehmen deshalb im Zweifel den Dialog mit den Kartellbehörden zu suchen, um gemeinsam den Rahmen für zulässige Vertikalvereinbarungen abzustecken.[10] Die Compliance-Herausforderung in der Praxis besteht vor diesem Hintergrund darin, dass vertikale Vereinbarungen und mögliche Wettbewerbsbeschränkungen zunächst von Mitarbeitern als solche erkannt und, wenn notwendig, einer näheren Überprüfung zugeführt werden.
1. Art. 101 AEUV
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Den normativen Ausgangspunkt für die Beurteilung vertikaler Vereinbarungen bildet im europäischen Kartellrecht das Kartellverbot nach Art. 101 AEUV. Art. 101 Abs. 1 AEUV verbietet unterschiedslos horizontale wie vertikale Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen, wenn diese eine Beschränkung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken.[11]
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Gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV ist eine Wettbewerbsbeschränkung i.S.v. Abs. 1 aber vom Kartellverbot zusammengefasst ausgenommen, wenn ihre wettbewerbsfördernden Wirkungen die wettbewerblichen Nachteile überwiegen.[12] Die Beweislast für das Vorliegen einer solchen Ausnahme oder „Freistellung“ vom Kartellverbot tragen im Rahmen der insoweit erforderlichen Selbsteinschätzung die Unternehmen (Art. 2 VO Nr. 1/2003). Dabei kommt den sog. Gruppenfreistellungsverordnungen („GVOen“), die bestimmte Kategorien von Vereinbarungen grundsätzlich vom Kartellverbot freistellen, die Rolle eines safe harbour[13] zu. Soweit eine Vereinbarung in den Anwendungsbereich einer GVO fällt, ist sie nach Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt. Dessen Anwendung beruht dabei auf der Annahme, dass die Freistellungsvoraussetzungen im Anwendungsbereich einer GVO „mit hinreichender Sicherheit“ erfüllt sind.[14] Insoweit konkretisieren die GVO in ihrem Anwendungsbereich Art. 101 Abs. 3 AEUV. Sie sind daher vorrangig zu prüfen.[15]
2. VO 330/2010 („Vertikal-GVO“)
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Für vertikale Vereinbarungen ist in erster Linie die am 1.6.2010 in Kraft getretene VO 330/2010 (im Folgenden: „Vertikal-GVO“) von Bedeutung, die vertikale Vereinbarungen grds. vom Kartellverbot freistellt. Bei der Beurteilung vertikaler Vereinbarungen in der Praxis bildet die Vertikal-GVO sogar regelmäßig den Ausgangspunkt der Überlegungen. Sobald ihre Freistellungsvoraussetzungen erfüllt sind, kommt es auf die Frage, ob überhaupt eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, regelmäßig nicht mehr an.[16] Die Vertikal-GVO ist wie folgt gegliedert:
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Art. 1 stellt der Vertikal-GVO Legaldefinitionen der für ihre Anwendung zentralen Tatbestandsmerkmale (z.B. „vertikale Vereinbarung“ in Abs. 1 lit. a) voran. Gem. Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO sind grds. sämtliche vertikalen Vereinbarungen, die die Tatbestandsvoraussetzungen des Kartellverbots (Art. 101 Abs. 1 AEUV) erfüllen, freigestellt. Nach der Legaldefinition in Art. 1 Abs. 1 lit. a Vertikal-GVO sind damit „Vereinbarungen (oder abgestimmte Verhaltensweisen)[17] zwischen Unternehmen, die für die Zwecke der Vereinbarung auf unterschiedlichen Stufen der Produktions- oder Vertriebskette tätig sind und die Bedingungen regeln, zu denen Waren oder Dienstleistungen bezogen oder weiterverkauft werden“, vom Kartellverbot ausgenommen. Entsprechend erfasst die Vertikal-GVO praktisch sämtliche vertikalen Vereinbarungen, unabhängig von der Vertriebsform (z.B. Alleinvertrieb, Selektivvertrieb, Franchising, mehrstufiger Vertrieb etc.) oder der Branche, in der die Parteien tätig sind.[18] Lediglich vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern sind, wenngleich sie Austauschbeziehungen zwischen ihnen regeln, grundsätzlich nicht freigestellt (Art. 2 Abs. 4 Vertikal-GVO). Wegen ihres weiten Anwendungsbereichs wird die Vertikal-GVO auch als „Schirm-GVO“ bezeichnet.[19]
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Weil die Vertikal-GVO am 31.5.2022 ausläuft (vgl. Art. 10), müssen Praktiker die zukünftige Entwicklung in „Brüssel“ im Blick behalten. Die Europäische Kommission hat bereits im Oktober 2018 eine Evaluierungsphase eingeleitet,[20] um Erkenntnisse zur Funktionsweise der Verordnung zu gewinnen und darüber entscheiden zu können, ob sie die Verordnung auslaufen lassen, verlängern oder überarbeiten sollte. Am 4.2.2019 hat die Kommission einen öffentlichen Konsultationsprozess in Gang gesetzt, in dessen Rahmen bis zum 27.5.2019 zahlreiche Stellungnahmen von Unternehmen, Verbänden, Verbraucherorganisationen sowie Wissenschaftlern eingegangen sind, die von der Europäischen Kommission mit Blick auf mögliche Anpassungen der Vertikal-GVO ausgewertet werden.[21]
3. Bedeutung des nationalen Rechts
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Die Anwendbarkeit des europäischen Kartellrechts setzt voraus, dass ein Verhalten geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der Union spürbar zu beeinträchtigen. Dies ist typischerweise der Fall, wenn eine Vereinbarung grenzüberschreitenden Bezug hat[22] oder sich auf das gesamte Gebiet eines Mitgliedstaats[23] oder zumindest auf eine größere Inlandsregion erstreckt.[24] Soweit eine vertikale Vereinbarung den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten spürbar beeinträchtigt, ist Art. 101 AEUV gegenüber dem nationalen Recht vorrangig anzuwenden (Art. 3 Abs. 2 VO 1/2003).
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Wenn eine vertikale Vereinbarung den zwischenstaatlichen Handel nicht beeinträchtigt, ist nur nationales Recht, in Deutschland also der praktisch inhaltsgleiche § 1 GWB anwendbar. Gem. § 2 Abs. 2 GWB gelten auch die GVO, insbesondere die Vertikal-GVO, entsprechend. Weil das deutsche Kartellrecht in seiner Beurteilung damit grundsätzlich den europäischen Regelungen folgt,[25] kommt es für die rechtliche Bewertung