Sergio Bambarén

Das Licht auf der anderen Seite des Flusses


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sah der Träumer das Licht zum letzten Mal und drehte sich um. Doch plötzlich war der Himmel durch einen Blitzeinschlag wieder hell erleuchtet. Er wandte sich noch einmal dem Fluss zu und sah etwas, wenn auch nur für eine Sekunde, das eine menschliche Silhouette zu sein schien. Dann war alles wieder stockdunkel. Und als sie die Räume des Gasthauses schließlich erreichten, war es, als ob der ganze Himmel herabfallen würde.

      Die Reise

      In dieser Nacht konnte der Träumer nicht schlafen. Das Donnern des Gewitters und der stärker und stärker werdende Regen hielten ihn wach.

      Aber nicht nur das. Es waren auch das Licht und die Silhouette auf der anderen Seite des Flusses, die er gesehen hatte. Er sah sie nur einen Augenblick lang. Doch er wusste, dass das ein Zeichen war, die Art von Zeichen, die er schon sein ganzes Leben lang kannte. Es ging um Einzelheiten, die vielen Menschen unwichtig erscheinen, die letztendlich jedoch unsere Verschiedenheit ausmachen. Er wusste, was ihm sein Herz sagte. Er musste den Fluss überqueren.

      Aber wie?

      Die Stimme des Herzens verlässt sich niemals auf die Logik oder auf Informationen, die der Verstand zu vermitteln versucht. Sie spricht zu jedem, so ist es schon immer gewesen. Durch diesen »Instinkt«, wenn man das einmal so nennen darf, unterscheiden sich viele Menschen, wie sie dem Leben begegnen, manchmal sogar dem Tod.

      Einen so breiten Fluss gegen die Strömung zu überqueren, der womöglich von Piranhas und weiß Gott von welchen anderen gefährlichen Kreaturen besiedelt ist, würde sich für viele Menschen vermutlich wie ein Todesurteil anhören. Aber nicht für den Träumer. Er hatte bemerkt, dass die Piranhas, die in diesem speziellen Fluss leben, anders waren als die, von denen Legenden und andere Horrorgeschichten erzählen. Es gibt im Dschungel des Amazonasgebietes nur eine Spezies von gefährlichen Piranhas. Und um ihr mörderisches Verhalten zu provozieren, muss Blut vorhanden sein. Alles Übrige gehört in die Welt des Kintopps, nach Hollywood und zu der Angst vor der Angst selbst. Es beruht auf Unwissenheit und sonst nichts.

      Geplant war, dass er das Gasthaus am nächsten Tag verlassen würde. Also schmiedete er einen Plan.

      Jetzt, dachte er, er wird das Gasthaus verlassen, ohne irgendjemandem von seinen Plänen zu erzählen. Man würde vermuten, dass er nur einer von vielen Touristen war, die den Regenwald verlassen haben, um in die Sicherheit des städtischen Lebens zurückzukehren. Also packte er seine Taschen, bezahlte die Rechnung und gab Carlos, der guten Seele des Gasthauses, ein üppiges Trinkgeld. Dann bat er ihn sehr freundlich, seine Taschen für ihn im Gasthaus aufzubewahren, denn er würde in einer Woche zurückkommen.

      Und Carlos tat, worum der Gast ihn gebeten hatte.

      Entgegen der wohl allgemein verbreiteten Annahme ist es sicherer, einen Fluss im Dschungel des Nachts zu durchqueren als am Tag. Die meisten gefährlichen Tiere leben im Regenwald und würden es nicht wagen, den Fluss in der Nacht zu durchqueren. Das gilt auch für die elektrischen Aale. Sie jagen während des Tages und nicht in der Nacht. Der Träumer wusste, dass er ein guter Schwimmer war.

      Er hatte sich vor Jahren mit den größten Wellen des Ozeans konfrontiert und seine Tauchübungen, die Luft unter Wasser lange Zeit anzuhalten, hatten ihm die Stärke gegeben, sich selbst zu vertrauen. Er hatte nicht das Gefühl, dass er ein Supermann war, doch dieses Risiko würde sich lohnen. Jedenfalls für ihn.

      Die Strömungen des Flusses verhalten sich den unterschiedlichen Phasen des Mondes entsprechend. Es war kein Neumond und kein Vollmond, also würden die Strömungen nicht zu stark sein.

      In dieser Nacht war der Himmel kristallklar mit Zigtausenden von Sternen am Himmelszelt. »Das ist gut!«, sagte er zu sich selbst. Und nachdem er so viele frische Früchte gegessen hatte wie er konnte und literweise Wasser getrunken hatte, ging er in seiner kompletten Taucherausrüstung zum Fluss. Er hatte sie mitgebracht, um mit den Delphinen des Amazonasdschungels zu schwimmen, hatte seinen Neoprenanzug übergezogen und einen Schnorchel angelegt. Sein verlässliches Schweizer Messer und zwei besonders starke, wasserdichte Taschenlampen hatte er fest an sich gebunden. Das war alles, was er brauchte, und eine riesige Portion Mut, absolut ohne Angstgefühle.

       Denn wenn jemand so viele wunderbare Erinnerungen aus seinem Leben hat, das sich anfühlt wie hundert Leben und jedes neue Abenteuer ein Geschenk des Universums ist, dann ist das Wort »Tod« nur eines von vielen, das in dem Herzen eines Menschen, der schon mehr erreicht hat, als er sich je erträumte, keine Rolle mehr spielt.

      Die Ströme des Amazonasdschungels sind trübe und braun. Sie bringen immer viel Schlamm mit sich, der in ihren Gewässern endet. Der Schlamm wird vom Regen in die Flüsse gespült.

      Der Träumer ging in seinen zur Taucherausrüstung gehörenden Stiefeln etwa zweihundert Meter stromaufwärts am Ufer des Flusses entlang, in der Hoffnung, dass er die Durchquerung des Flusses bis zum gegenüberliegenden Ufer schaffen würde. Er wollte in der Nähe der Stelle ankommen, wo er das Licht gesehen hatte.

      Trotz seiner vollständigen Taucherausrüstung mit Schwimmflossen, Neoprenhandschuhen und Maske wusste er, dass er schnell handeln musste, bevor ein Tier des Dschungels das Fleisch unter dem Anzug riechen würde.

      Halt inne, meditiere! Sei hellwach und überlebe.

      Es dauerte nur ein paar Minuten, sein Herz und seine Seele von den falschen Gefühlen zu befreien, die versucht hatten, seinen Geist zu vernebeln: die Angst vor der Angst selbst. Dann tauchte er unmittelbar in den Fluss ein und hoffte das Beste.

      Der starke Fluss trug Baumstämme mit sich und Geröll. Aber er schwamm so kraftvoll, wie er nur konnte, in die Richtung des anderen Ufers gegen den Strom. Doch die starke Strömung behielt immer die Oberhand. Er entschied sich, seinen Verstand auszuschalten, zu meditieren, die Angst unter Kontrolle zu halten, nur mit dem einen Ziel im Kopf: das Ufer auf der anderen Seite des Flusses zu erreichen.

      Nach schätzungsweise fünfzehn Minuten hatte er bereits den Punkt überschritten, von dem aus es kein Zurück mehr gab. Abgekämpft, aber in absoluter Kontrolle, mit Prellungen von ein paar Baumstämmen und von Kreaturen beschnüffelt, mit denen sich niemand anlegen möchte, fixierte er seine Augen auf das Ufer, das näher und näher zu kommen schien.

      Doch wir sind Menschen und keine Roboter. Und früher oder später beginnen wir uns müde zu fühlen. Innezuhalten war keine Lösung, sondern der sichere Tod. Heimtückische Wirbel würden jegliches sterbliche Wesen in die Tiefe des Flusses reißen. Eine Sekunde lang fragte ihn sein Verstand: »Was zum Teufel machst du hier, du verrückter Träumer?«

      Und sein Herz sagte zu seinem Verstand: »Ich träume einfach nur wieder.«

      Entgegen jeglicher Art von Logik oder eines Überlebensinstinktes erreichte er schließlich die andere Seite des Flusses, wo das Licht war. Er setzte sich neben einen hohen Baum, bettete sich auf ein paar Palmenblätter, ließ die Taschenlampe an und schlief ein. Er war so erschöpft und müde.

      Ein starker Arm zog ihn hoch. Noch halb im Schlaf sah er einen Menschen, der ihn anlächelte. Ohne Worte gab der ihm ein mit Wasser gefülltes Palmenblatt. Er trank es in einem Zug vollkommen aus.

      »Komm mit mir«, sagte der Mensch. Er begann mit seiner Machete in der einen