Alain Sutter

Stressfrei glücklich sein


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Ende meiner Karriere

      Nach dem Ende meiner Karriere zog ich mich komplett aus der Öffentlichkeit zurück. Ich lebte in Miami, wo mich niemand kannte. Absichtlich ging ich keiner geregelten Tätigkeit nach. Ich brauchte Ruhe, Zeit und freien Raum, denn ich spürte, wie wichtig es für mich war, mein bisheriges Leben zu verarbeiten und mir über einige Dinge klar zu werden. Es war Zeit, meine Verwirrung zu entwirren. Ich startete meine Lehre und mein Forschungsvorhaben im spannendsten Unternehmen unseres Planeten: dem Leben.

      Die erste Zeit habe ich uneingeschränkt genossen. Frei und unbeobachtet zu sein, keine Verpflichtungen zu haben, keine Erwartungen mehr erfüllen zu müssen, zu tun und zu lassen, wann und was immer ich wollte, ein paar Schritte gehen und schon im Meer baden. Golf spielen, ausgehen, lesen, shoppen, reisen …

      Ein Leben, wie »man« es sich erträumt. Und ich war mir zunächst auch sicher, das sei mein gelebter Traum, denn ich wünschte mir nichts sehnlicher, als nach 13-jährigem hektischem Fußballer-Leben im Glashaus der Öffentlichkeit etwas Ruhe zu finden. Doch das Erwachen kam rasch. Die Ruhe und das Nichtstun wurden bald schon zur großen Belastung. Meine ganz persönliche Lebenskrise begann.

      Denn ich war vorher überzeugt davon, dass sich dieses allgemein bekannte Loch, in das so viele Sportler nach ihrer Karriere fallen, für mich nicht auftun würde. War ich doch einer, der sich schon während seiner Karriere viele Gedanken über die Mechanismen, die als Fallgrube nach der Karriere lauerten, gemacht hatte. Trotzdem war ich absolut nicht vorbereitet auf den emotionalen Entzug, der auf mich wartete und mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte.

      Mein Fußballer-Dasein hatte jede Woche zwei bis drei emotionale Höhepunkte für mich bereitgehalten, dann nämlich, wenn ich in die Stadien einlief und mich die Aufmerksamkeitswelle der Zuschauer überrollte. Diese Aufmerksamkeit, gepaart mit der Bedeutung, die ich diesen Ereignissen beimaß, führte zu ungeheuer intensiven Momenten emotionaler Glücksgefühle. Hormon-Cocktails, die im normalen Alltag nicht existieren.

      Diesbezüglich war mein Leben als Fußballer sehr intensiv. Erst als diese Momente nicht mehr in meinem Leben vorhanden waren, realisierte ich, wie stark diese »Droge« ist. Mir wurde bewusst, dass ich während meiner Karriere ein Emotions-Junkie geworden war.

      Da mein Entzug ebenso freiwillig wie radikal war – ich füllte das entstandene Loch weder mit Inhalt (Arbeit) noch mit Ersatzbefriedigungen (Drogen, Alkohol, Partys, etc.) – traf er mich mit voller Wucht.

      Eine Szene, die mich tief berührte und mir die ganze Stärke dieser »Droge« zeigte, war zum Beispiel das Abschiedsspiel von Diego Armando Maradona. Einem der begnadetsten Fußballer aller Zeiten. Als er nach dem Spiel von seinen Fans und Mitspielern verabschiedet wurde, weinte er wie ein kleines Kind, dem gerade das Wichtigste in seinem Leben weggenommen wurde. Sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung schrien förmlich danach, nicht gehen zu müssen. Er liebte diese Bühne so sehr, dass er wohl am liebsten nie von ihr abgetreten wäre. So weinte er hemmungslos, denn er musste etwas loslassen, obwohl er noch nicht bereit dazu war. Doch genau dafür ist Trauer – die sich hier in ihrer Reinheit zeigte – da: um uns zu helfen, etwas loszulassen, was wir gar nicht loslassen wollen. Er liebte dieses Spiel und war mit ganzem Herzen dabei. Das Spielfeld war seine Bühne, wo er die Aufmerksamkeit erhielt, die ihm immer wieder Glücksgefühle schenkte. Doch was würde nach dem Abpfiff geschehen? Wenn alle seine Fans das Stadion verlassen hatten und für ihn der Alltag zum Alltag wurde, ohne Aufmerksamkeit, Anerkennung, Lob und Bestätigung anderer?

      Tief ergriffen saß ich damals vor dem Fernseher und habe mit ihm geweint. Ich wusste genau, was in ihm vorging. Mein »neuer« Alltag hatte mir gezeigt, was Sache war. Ein Leben ohne diese Kicks, in ein Stadion mit 30–40 000 Menschen »einzumarschieren«, ohne dieses enorme Maß an Aufmerksamkeit mit der Chance auf Anerkennung, Lob und Bestätigung. Ein solches Leben kam mir doch sehr langweilig und öde vor. Ich empfand es zeitweilig wie eine als Paradies verkleidete Hölle.

      Wäre da nicht meine Frau Melanie gewesen, die mich mit unendlicher Geduld unterstützt und meine Launen ausgehalten hat, weiß ich nicht, ob ich diese Phase meines Lebens so gut überstanden hätte. Ich hätte wohl nie die Chance gehabt, mich aus dieser Abhängigkeit zu befreien und jemals frei zu genießen, was ich habe, tue und bin, ohne dies zu brauchen. Dafür werde ich ihr ewig dankbar sein.

      Zum Glück war ich stark genug, diese Umstände ohne Drogen und Alkohol auszuhalten, was leider für viele in solchen Krisen ein beliebtes Mittel ist, um der öden Realität, dem Alltag, zu entfliehen. Während dieser Zeit schien es mir, als sei das Beste in meinen Leben schon vorbei, alles Weitere konnte sich nach diesen »Höhepunkten« nur noch im Bereich des Mittelmäßigen, das heißt Langweiligen bewegen.

      Wie man sich doch täuschen kann.

      Heute bin ich unendlich dankbar für diese Erfahrung. Sie hat dazu geführt, dass ich die Freude und Magie des Moments – eine Gabe, die ich als Kind schon hatte – wiederentdeckte und mir bewusst werden konnte, was Glück wirklich bedeutet. Mein Mut, diesen Weg konsequent zu gehen und nicht die Flucht zu ergreifen, schenkte mir im Laufe der Zeit wahrhaftes Selbstvertrauen und eine immer größer werdende innere Stärke und Stabilität.

      Auch die Augenblicke der Zufriedenheit mit mir, meinem Leben und meiner Umwelt vermehrten sich zusehends und führten mich immer wieder in den Zustand des stressfreien Glücks, das an keine äußeren Umstände und kein Ereignis gebunden war. Diese tiefen Momente des Glücklichund Zufriedenseins stellten all die früher erlebten Glücksgefühle in den Schatten und ließen sie allmählich verblassen.

      Bekannt und unglücklich

      Liegt das persönliche Scheitern erfolgreicher und berühmter Menschen etwa daran, dass sie mit der Zeit von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mit all ihren positiven Emotionen abhängig wurden?

      Hat sich so vielleicht langsam und unmerklich der Erfolg, der sich so gut anfühlt, ins Zentrum ihres Tuns geschlichen?

      Hat sich durch gelegentliche Misserfolge, die mit Kritik, Häme und Verletzungen verbunden waren und sich bescheiden anfühlten, allmählich die Angst eingeschlichen, den bisherigen Erfolgen und Erwartungen nicht mehr genügen zu können?

      Konnte so ein stetig steigender innerer Druck entstehen, der zu einer Abhängigkeit von Erfolg und süßen Glücksgefühlen geführt hat, die nun immer wieder erlebt werden wollten?

      Verdrängt mit der Zeit die Angst, diese Glücksgefühle des Erfolges nicht mehr erleben zu können, kritisiert und verletzt zu werden, also dieser selbst auferlegte Erfolgsdruck, die Freude irgendwann vollständig?

      Jagen diese Menschen den Glücksgefühlen, die der Erfolg ihnen beschert hat, ständig hinterher?

      Könnte es dann sein, dass sich dieses Glücksgefühl nach Verlassen der Bühne und mit Beginn des normalen Alltags immer wieder im Nichts auflöst? Was dann?

      Bei mir führte dieser Mechanismus irgendwann einmal zu dem Punkt, an dem ich die Aufmerksamkeit brauchte, aber gleichzeitig auch die Angst vor dem Verletztwerden da war. Das hat zur Entstehung eines immensen inneren Kon- flikts geführt, der großen Stress auslöste. Ich war abhängig geworden von der Aufmerksamkeit und dem Applaus und diesen Kick wollte beziehungsweise musste ich immer wieder spüren. Gleichzeitig hatte ich aber auch vor jedem Auftritt Angst, kritisiert und verletzt zu werden. Dass diese Kombination zu inneren Konflikten und Stress führt, ist unausweichlich. Es ist sozusagen ähnlich wie bei einem Drogenabhängigen, der weiß, dass ihm die Drogen körperlichen und seelischen Schaden zufügen, der aber trotzdem den nächsten Kick braucht.

      Die vielen traurigen und auch tragischen Geschichten von berühmten und erfolgreichen Menschen zeigen, was aus diesem Erfolgsdruck entstehen kann.

      Die Angst zu versagen und dadurch kritisiert und verletzt zu werden, kann erdrückend sein. Man lebt in einem Käfig der Angst vor den Reaktionen und Meinungen anderer, die immer wieder die Wunden der Vergangenheit aufreißen können. Wenn man in der Öffentlichkeit steht, wird dieser Druck noch um ein Zigfaches erhöht, da man quasi permanent in einem Glashaus sitzt – eine Erfahrung, die ich selbst oft genug gemacht habe.