Walter Brendel

Unter der Sonne geboren - 2. Teil


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es sofort. Auch Madame de Venel, die Marie zum Einsteigen aufforderte, hielt inne und starrte Ludwig überrascht an. Sie sank in einen tiefen Knicks und blickte zugleich misstrauisch zu ihrem Schützling hoch. Auch ein König war ein Mann, und ihre Aufgabe als Gouvernante war es, Marie vor jeglichem Schaden, den Männer verursachten, zu bewahren.

      Doch Marie wollte vor gar nichts bewahrt werden. Am liebsten wäre sie zu Ludwig hingelaufen und hätte sich in seine Arme geworfen. Sie zweifelte nicht daran, dass er sie beglückt umfangen hätte. Er liebt mich!, dachte sie. Ich bin sicher, dass er mich liebt... Die Schmach des gestrigen Abends war vergessen, als sie beschämt aus dem Ballsaal geschlichen war, weil niemand von ihr Notiz genommen hatte.

      Nun aber fiel das Licht wieder auf sie. Ludwig ging auf sie zu - langsam, um den kostbaren Moment nicht zu verkürzen. Sie ließen einander nicht aus den Augen. Marie knickste, wie es sich gehörte, aber sie verneigte sich nicht. Als Ludwig sie erreicht hatte, streckte er ihr die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. Auch als sie bereits stand, ließ er sie nicht los.

      Inzwischen waren sämtliche Reisenden bei ihren Kutschen angekommen. Alle sahen auf Ludwig und Marie, die selbst nichts wahrnahmen als einander. Keiner der beiden lächelte. Noch nie war ihnen etwas so ernst gewesen wie dieser Augenblick.

      Als sie sich dann doch voneinander lösten, stieß Maries Hand schmerzhaft gegen den Knauf von Ludwigs Schwert. Sie schrie leise auf und rieb sich die betroffene Stelle. Ludwig sah ihr erschrocken zu, dann riss er das Schwert aus der Scheide und warf es weit von sich. Klirrend blieb es mitten auf der Straße liegen.

      Die Zuschauer stöhnten auf und flüsterten anerkennende Kommentare über die Ritterlichkeit des Königs. Ludwig selbst verneigte sich vor Marie und nahm vorsichtig ihre Hand. Ohne jemand anderen zu beachten, führte er Marie zu seiner Kutsche.

      Madame de Venel hob in hilflosem Entsetzen ihre Arme.

      Dann raffte sie ihre weiten Röcke zusammen und folgte den Beiden. Als sie eingestiegen waren, bestand sie darauf, ebenfalls mitgenommen zu werden. Dass es die Kutsche des Königs war, spielte für sie keine Rolle. Ihre Pflicht bezog sich auf die Nichte des Kardinals, die sich - davon war Madame de Venel überzeugt - soeben in die größte Gefahr ihres Lebens begab. Sie jetzt nicht im Stich zu lassen, war nicht nur Christen-, sondern auch Gouvernantenpflicht. Außerdem: Der König war zwar der König, aber das Sagen hatte wohl immer noch der Kardinal, und der war ihr Auftraggeber und der Vormund des unglückseligen Mädchens, das dabei war, offenen Auges ins Verderben zu rennen.

      Tage des Glücks und der Verliebtheit folgten und wurden zu Wochen und zu Monaten. Allein schon die Rückreise nach Paris war das Schönste, was Ludwig je erlebt hatte. Wie in einem Taumel vergingen die wenigen Tage, in denen der Winter näherkam und es allmählich kälter wurde. Eines Morgens fiel sogar Schnee. Die Königin und der Kardinal, Olympia und Hortense zogen sich warm verpackt in ihre Kutschen zurück, ließen jedoch zu, dass Ludwig und Marie den Schutz der Fahrzeuge verschmähten und Seite an Seite durch den kalten Tag ritten.

      Manchmal hieben sie ihre Pferde zum Galopp an. Dann wieder hielten sie an einem besonders reizvollen Punkt der Landschaft inne und sahen sich um. „Das ist Ihr Land, Sire!“, sagte Marie leise. „Sie sollten es lieben.“

      Ludwig nickte nachdenklich. Noch nie war er mit sich selbst so sehr im Reinen gewesen wie jetzt, und noch nie hatte er sich als Teil eines wundervollen, riesengroßen Ganzen gefühlt, das er nicht benennen konnte, das ihm aber manchmal fast die Tränen in die Augen trieb. Sie nannten einander beim Vornamen, und manchmal wagte Marie sogar, Ludwig zu duzen, als wären sie beide noch kleine Kinder, Geschwister oder Freunde, die einander gleichgestellt waren. Kein Knicks, wenn sie allein waren, nur eine sanfte, ehrerbietige Zärtlichkeit, die Ludwig niemals überschritt, weil er zutiefst daran glaubte, dass eine Liebe, wie er sie nun empfand, sogar dem strengen Schicksal genehm sein musste. Niemand konnte verlangen, dass sie sich jemals wieder trennten. Sogar der Kardinal und die standesbewusste Königin würden zugestehen müssen, dass es Gefühle gab, die alle Grenzen überschreiten durften. Auch der Hof würde es verstehen. Frankreich würde es verstehen. Die ganze Welt würde es verstehen. In alle Ewigkeit würde man den jungen König von Frankreich rühmen, weil er so sehr geliebt hatte, dass alle Schranken zusammenbrachen.

      So ritten die beiden durch die winterlichen Tage. Immer wieder fiel Schnee, bis das ganze Land davon bedeckt war. Ludwig auf seinem tänzelnden Pferd beugte sich zu Marie hinüber und küsste ihre eiskalten, geröteten Wangen. „Meine Mutter hat noch nie etwas gegen uns beide gesagt!“, flüsterte er. „Ich bin sicher, sie versteht uns.“

      Marie nickte lächelnd. „Mein Onkel ebenfalls“, erklärte sie. „Ich glaube, man gönnt uns unser Glück.“ Dann ritten sie weiter. Erst am Abend trafen sie in den Rastorten wieder mit ihrer Reisegesellschaft zusammen. Man aß und trank, spielte Gitarre und sang.

      Die Einzige, die ihr Missfallen nicht verbergen konnte, war Madame de Venel. Doch alles, was sie von den Liebenden dafür erntete, war Lachen und Spott. Die Gouvernante konnte kaum glauben, wie kindisch fast erwachsene Menschen durch das hemmungslose Ausleben ihrer Verliebtheit werden konnten.

      Einmal brachte ihr Ludwig eine wunderbar bemalte Schachtel als Geschenk mit. Zögernd nahm sie sie entgegen. „Süßigkeiten, Sire?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Ludwig verneigte sich und Verließ den Raum. Madame de Venel öffnete die Schachtel und ließ sie gleich darauf schreiend zu Boden fallen. Anstelle der Pralinen, die sie erwartet hatte, sprangen ihr zwölf Mäuse entgegen. Madame de Venel starb fast vor Schreck. Sie war überzeugt, dass sie in ihrem Innersten nie wieder Achtung vor diesem König haben konnte.

      Marie bekam andere Geschenke. Als sie wieder in Paris waren, verlangte Ludwig von Mazarin ein Präsent für seine Liebste. Mazarin zögerte. Er war nicht gegen diese offenkundig immer noch unschuldige Verbindung seines Patensohns und seiner Nichte. Sie kam ihm sogar ganz gelegen, wusste doch ganz Europa bereits davon, auch die Katholische Majestät, was Mazarin bei seinen Verhandlungen mit Pimentel zugutekam. Philipp von Spanien musste damit rechnen, dass sein Heiratsangebot abgelehnt wurde, wenn er zu viel dafür verlangte. Wenn man sich allerdings geeinigt hatte, mussten die verliebten Spielchen ein Ende haben.

      „Ich bin Maries Vormund!“, beruhigte Mazarin die Königin, der alles schon viel zu weit ging und die Marie immer weniger ausstehen konnte. Trotzdem umarmte sie sie manchmal zärtlich Und nannte sie „liebes Kind“. Marie konnte nicht ahnen, wie schwankend der Boden war, auf dem sie sich bewegte.

      Ludwig schenkte ihr das kostbarste Perlencollier, das es in Europa gab. Zuvor war es im Besitz der englischen Königin gewesen. Als man deren Gemahl enthauptet hatte, war Henriette nach Frankreich geflohen. Der Verkauf des Colliers bewahrte sie davor, Königin Anna wegen jeder Kleinigkeit um Unterstützung zu bitten. Siebzigtausend Livre war das Schmuckstück wert. Ein wahrhaft königliches Geschenk, das Ludwig da seiner Angebeteten um den Hals legte. Nur zähneknirschend hatte Mazarin das Geld herausgerückt. Er tröstete sich damit, dass der Besitz eines so wertvollen Schmuck-stücks seiner Nichte den unausweichlichen Abschied versüßen würde.

      Vielleicht würde es bis zu diesem Abschied gar nicht mehr so lange dauern. Zwar wurde der Krieg an der Front immer noch blutig weitergeführt, doch die Verhandlungen gingen ihrem Ende entgegen. Zum ersten Mal kamen Besucher aus Spanien nach Paris.

      Don Juan d'Austria, Gouverneur der Niederlande und natürlicher Sohn Philipps IV., besuchte seine Tante, Königin Anna, im Louvre und wurde liebevoll aufgenommen. Auch Don Antonio Pimentel hätte sich keinen freundlicheren Empfang wünschen können, und als der Sonderbotschafter Frankreichs, Gramont, nach Madrid reiste, wurde ihm sogar gestattet, der spanischen Königin, die allein zu speisen pflegte, bei ihrem Diner zuzuschauen. Zwei Hofdamen, ganz in Weiß gekleidet, bedienten kniend ihre Herrin, während der Botschafter das Gefühl hatte, sich auf einem anderen Stern zu befinden. Doch es war wohl eine große Ehre, die ihm da zuteilwurde, und so verbarg er sein Befremden hinter der undurchdringlichen Miene, die am spanischen Hof wohl üblich war.

      Marie begriff nicht, was das Hin und Her spanischer Gäste zu bedeuten hatte. Allzu sicher fühlte sie sich durch Ludwigs Liebe, die von Tag zu Tag größer zu werden schien. Das Perlencollier, das er ihr umgelegt hatte, kam ihr wie ein heimliches Verlobungsgeschenk