Malte Leyhausen

Familie ist nichts für Feiglinge


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bleiben wir „genial gesund“ durch „Superfood for Family & Friends“.

      Wer es sich leisten kann, gibt ein Vermögen für Bio-Nahrung für die Familie aus. Wer es sich nicht leisten kann, auch. Und was der Dinkelbratling an Aufbaustoffen nicht rausrücken will, erhalten die Kids in Tablettenform. Das Geschäft mit Nahrungsergänzungsmitteln boomt.

      Allein in Apotheken wurden dafür im Jahr 2019 in Deutschland 2,2 Milliarden Euro ausgegeben. Die Nachfrage nach Kinderprodukten stieg rasant. Die Pillen sollen vor allem das Immunsystem, die Konzentration und das Wachstum stärken (Ernährungsumschau 2020). Sofern ein Arzt keinen Mangel an Vitaminen und Mineralien feststellt, sind die zugefütterten Präparate überflüssig bis riskant. Bereits eine ausgewogene Ernährung deckt die benötigte Tagesdosis aller benötigten Nährstoffe ab. Über die Hälfte der Nahrungsergänzungen überschreitet die vom Bundesinstitut für Risikobewertung empfohlenen Höchstwerte um bis zu 700 Prozent (Ärzteblatt 2020). Leider stößt der Körper die überschüssigen Mengen nicht einfach ab. Zum Beispiel konnte der Nutzen von Zink bei Erkältungen nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden. Im Gegenteil: Der Schnupfen dauert mitunter zwei Tage länger und es treten zusätzliche Symptome auf (Meyer 2020).

      Und wie sieht es bei den Vitaminen aus? Bei Öko-Test (2019) fielen alle Kombi-Präparate mit dem „Vitamin-Alphabet“ ausnahmslos durch. Gerügt wurde unter anderem der zu hohe Anteil an Vitamin A. Nebenwirkungen: Juckreiz, Kopfschmerzen und Gefahren in der Schwangerschaft. Medizinische Fachverbände kommen zu dem Fazit: Es ist nicht möglich, mit Nahrungsergänzungsmitteln Krankheiten vorzubeugen (Ärzteblatt 2019).

      Wir stehen zwischen den Werbeversprechen der Gesundheitsindustrie, die uns das Wohlergehen der Familie in den Einkaufskorb legen möchte, und dem unberechenbaren Restrisiko für unsere Lieben, krank zu werden. Der Anspruch, vor allem die Kinder vor Krankheiten zu schützen, nagt am Gewissen. Treten meine Kleinen in selbst atmenden Schuhen ins Leben? Schlummert mein Krümel auf einer Matratze, die mitschläft? Hat mein Kinderwagen die TÜV-geprüfte Wegfahrsperre vor Wasserfällen?

      Die sportlichen Aktivitäten der Kinder werden der Gesundheit zuliebe mit den Jahren immer kostspieliger. Erst bleiben die teuren Fußballschuhe bereits nach drei Wochen im Schrank. Der Judo-Anzug wird danach besser gebraucht gekauft, damit man sich für die Tochter die Reitstunden leisten kann. Aber was sind schon Reitstunden, wenn angeblich fast alle Freundinnen in der Klasse ein Pferd haben? Und Ronja hat sogar zwei!

      Der Arzt und Familientherapeut Arnold Retzer (2012) entzaubert das Hoffen auf verlässliche Gesundheit als organisiertes Unglück:

      „Eine geradezu epidemisch verbreitete Hoffnung, die letztlich zu schlechter Stimmung führt, ist die Hoffnung, gesund zu sein und zu bleiben. Diese Hoffnung zielt darauf ab, sich immer wieder Gewissheit verschaffen zu können, ob man noch gesund ist. Ein Ziel, das umfangreiche und komplizierte Prozeduren auslöst. Die Folge: Miese Stimmung!“

      Schließlich hofft man auf etwas, das nur durch die Abwesenheit von Krankheit existiert: Gesundheit merkt man erst, wenn man nichts merkt (keine Schmerzen). Erst, wenn etwas fehlt (zum Beispiel Appetit) oder etwas hinzukommt (zum Beispiel Fieber), hat sich das unsichtbare Phantom „Gesundheit“ aus dem Staub gemacht.

      Und wie lautet nun das Rezept gegen die unheilbare Hoffnung auf eine stets gesunde Familie? Es bleibt Ihnen nur, sich mit den realistischen Vorsichtsmaßnahmen abzufinden. Nehmen Sie Abschied von der Illusion, jedes Krankheitsrisiko kontrollieren zu können. Für das naturgemäße Restrisiko ist Gelassenheit die beste Medizin.

      Optimierungsfalle Harmonie

      Konflikte sind anstrengend und passen nicht zu der idyllischen Vorstellung, dass die Familie stets vom Band der Liebe zusammengehalten wird. Reibungen sind unvermeidbar. Wenn der Haussegen schief hängt, ereilen uns typische Gedanken wie: Warum können sich nicht alle ein bisschen zusammenreißen? Schließlich schlucke ich auch alles herunter. Ist es zu viel verlangt, das Gleiche von den anderen zu erwarten? Ja, anscheinend ist es zu viel.

      Unser Harmoniebedürfnis basiert auf den Erfahrungen mit Konflikten in unserer Herkunftsfamilie. Wer in seiner Kindheit oft Streit ertragen musste, verbindet damit Ängste wie: Ich werde an meinem wundesten Punkt verletzt. Ich werde mit Liebesentzug bestraft. Ich werde vielleicht für immer verlassen. Hoffentlich droht keine Gewalt.

      Andere sind von Kindesbeinen an sturmerprobt und empfinden Auseinandersetzungen als weniger bedrohlich. Sei es, weil sie im Elternhaus einen lösungsorientierten Umgang mit Problemen kennengelernt haben, sei es, weil nach dem reinigenden Gewitter am nächsten Tag alles wieder gut war. So bringen Paare unterschiedlich geprägte Erwartungen an das Harmonie-Level in die neu gegründete Familie mit ein. Was für den einen als harmlose Meinungsverschiedenheit gilt, kann für den anderen schon einen erbitterten Streit darstellen.

      Aus entwicklungspsychologischer Sicht sollte dem Wunsch nach nahtloser Harmonie ebenfalls nicht entsprochen werden. Der Weg zur Individualität der Kinder ist mit Reibungen gepflastert, sonst ist die Ablösung von Eltern und Geschwistern nicht möglich.

      Ein weiterer Grund, aus dem die Optimierungsfalle hier zuschnappt: In der harmoniegesteuerten Familie darf es keine Unterschiede geben. Das führt unweigerlich zu Konflikten, weil die verschiedenen Bedürfnisse nicht gewürdigt werden. Wer das Aufblitzen von Unterschieden konsequent unter dem Deckel halten will, versucht, Feuer mit Stroh zu löschen. Denn: Streit entsteht, wenn sich die unterschiedlichen Bedürfnisse, Werte und Ziele der Familienmitglieder überkreuzen. Dann rasseln völlig unterschiedliche Vorstellungen von Richtig und Falsch aneinander. Eltern berufen sich auf ihr Bestimmungsrecht. Kinder pochen auf ihr Selbstbestimmungsrecht. Und Geschwister fordern Gerechtigkeit.

      Die Kunst ist es nun, eine Kommunikation zu entwickeln, welche die individuellen Unterschiede in der Familie wertschätzend zur Sprache bringt, ohne sie aus Sorge vor Disharmonie beseitigen zu wollen.

      Aus Sicht der systemischen Familientherapie ist das Würdigen und Akzeptieren von Unterschieden ein zentraler Schlüssel zur Konfliktlösung (Bateson 1984). Dazu sollte man wertschätzend miteinander reden.

      Ich werde in diesem Buch Möglichkeiten aufzeigen, wie in den verschiedenen Familienphasen die Kommunikation gestaltet werden kann, damit sich destruktive Muster nicht verfestigen.

      Konflikte entzünden sich an Problemen. Ich weihe Sie in das Geheimnis ein, wie Sie in der Familie mit der Magie der Bewertung Probleme beliebig herstellen und wieder in Luft auflösen können. Ein Problem entsteht nämlich nur, wenn Sie den Unterschied zwischen einem IST-Zustand und einem SOLL-Zustand negativ bewerten. Zwei Beispiele: Sie betrachten einen IST-Zustand bei einem Familienmitglied (vollschlank) und vergleichen ihn mit dem von Ihnen willkürlich definierten SOLL-Zustand (schlank). Bisher gibt es kein Problem. Das stellen Sie erst wie folgt her: Sie bewerten den Unterschied zwischen IST und SOLL als schlecht. Simsalabim! Und schon erscheint aus dem Nichts ein echtes Problem: „Es ist problematisch, dass du vollschlank bist, weil du nach meiner Bewertung schlank sein solltest!“

      Und wie lassen Sie das Problem wieder verschwinden? Sie verabschieden sich von der bisherigen Bewertung. Sobald Sie es nicht mehr negativ beurteilen, dass eine Tatsache (IST) nicht Ihren Wunschvorstellungen (SOLL) entspricht, gibt es auch kein Problem mehr.

      Das zweite Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter ist mit ihren Nerven am Ende, weil ihr der pubertierende Sohn alle Kraft raubt. Erst geißelt sie sich mit Selbstvorwürfen, weil sie in ihrem erschöpften Zustand die Erziehungsaufgaben nicht mehr nach ihren eigenen Ansprüchen erfüllen kann. Dann bewertet sie den Unterschied zwischen dem IST (Erschöpfung) und dem SOLL (anspruchsvoll erziehen) nicht mehr als negativ. Sie sagt sich, ich steige für eine Weile aus der Erziehung aus, weil ich einfach nicht mehr kann. Natürlich stellt sie weiter die Versorgung und den Schutz des Jugendlichen sicher. Aber durch die Entscheidung, dem „Terror des Solls“ eine