lassen, um den gesamten Thron allein einnehmen zu können, doch das hatte nicht einmal er gewagt. Immerhin hatte er durchsetzen können, dass nach dem Tod von Silurens Mutter keine neue Akh’Eldash gesalbt worden war. Seit über zwanzig Jahren symbolisierte nur ein elegant drapierter weißer Schleier die Anwesenheit der Schwesternschaft und die Macht der Erdmutter. Wie oft hatte Siluren sich gewünscht, dass neben Ruothgar eine Frau sitzen möge, eine Stimme der Sanftmut und des Friedens.
Bald schon würde das der Fall sein. Oder nein, keine Frau. Ein Mädchen. Wie hatte Ruothgar sich das eigentlich vorgestellt? Wenn die Akh’Eldash erst einmal im Schloss war, würde er der Hohepriesterin den ihr zustehenden Platz nicht verweigern können. Selbstverständlich würde das nicht bedeuten, dass er seinen eigenen Platz für Siluren räumte. Er würde selbst weiterherrschen wollen. Vermutlich würde er das Mädchen einschüchtern, sie »auf Linie bringen«. Er würde sie zu seinem eigenen Geschöpf formen, zu einer verängstigten Gehilfin seiner Ziele. Und Siluren, durch den Zauber der Göttin an die Akh’Eldash gebunden, würde wiederum ihr willfähriger Diener sein.
Mit leiser Übelkeit wandte Siluren sich ab. Gleichgültig, ob er selbst oder Coridan die Akh’Eldash ehelichten, Ruothgar konnte nur gewinnen.
***
Die nächsten Tage verbrachte Lynn damit, das Eldash-Mithral gewissenhaft abzuschreiben. Es war eine Reise in die Vergangenheit, die ersten Seiten lasen sich so seltsam, dass Lynn sie nicht einmal verstand. Sie enthielten nur sinnlos aneinandergereihte Worte. Womöglich hatte das wiederholte Kopieren Fehler erzeugt und die Bedeutung verschleiert.
Vielleicht gab es ja ältere Exemplare des Eldash-Mithral, mit deren Hilfe sich das eine oder andere berichtigen ließ. Mit diesem Gedanken machte Lynn sich auf zur Priorin, um sie danach zu fragen. Sie fand sie im Kreise einiger jüngerer Kanonissen, das Buch der Ursprünge auf den Knien, aus dem sie gerade las.
»Die Geister aber sprachen: Es ist nicht recht, dass ein leiblich Ding Verstehen haben soll, gleich unserem Verstehen. Und sie kamen hernieder und ließen die Geschöpfe der Erdmutter erstarren, und einer nach dem anderen verloren die Riesen ihre Weisheit und ihr Verständnis für die Dinge der Welt. So kehrte der Stein zurück zu dem, was er gewesen war, und war nichts anderes mehr als Stein.«
Lynn blieb hinter der Türe stehen und lauschte. Sie hatte die Worte schon so oft gehört, dass sie sie mitsprechen konnte, aber sie liebte diese seltsam altertümlich anmutende Sprache aus ferner Vergangenheit.
»Zuletzt«, fuhr die Priorin fort, »blieben nur drei Getreue, welche die Erdmutter zu sich rief, und sie sprach zu ihnen: Ihr drei sollt meine Ammen sein, denn ich will Geschöpfe gebären aus den Tiefen meines Leibes, und sie sollen sein Leib von meinem Leib und Geist von meinen Geist.
Und sie gebar die Pflanzen, die Tiere, und zuletzt auch das erste Menschenpaar. So bevölkerte sie die Welt zu der Zeit, als die drei letzten Getreuen zu Stein erstarrten.
Erneut zürnten die Geister, doch die Zahl der Geschöpfe war zu groß, ihre Art zu vielfältig, als dass die Geister sie alle hätten vernichten können, und so säten sie in jeden Erstling nur einen winzigen Keim, dass er wachse und sich ausbreite und zersetze, was immer er fände. Und dieser Keim ist der Tod. Darum werden alle Kinder der Erdmutter alt und sterben, bis auf den heutigen Tag.
Doch zu mächtig war der Zauber der Erdmutter, zu groß ihre Weisheit. Denn auch das Leben, das die Mutter in ihre Geschöpfe gelegt hatte, floss weiter an deren Kinder und Kindeskinder, und so besteht auch das Leben in der Welt fort, bis auf den heutigen Tag.«
Sie schloss das Buch und blickte in die Runde. Sibyllin hob die Hand. »Muss ich auch sterben?«
»Irgendwann schon«, sagte die Priorin. »Dann kehrt dein Leib zurück zu ihrem Leib und dein Geist zu ihrem Geist. Aber davor darfst du leben. Das ist das große Geschenk der Erdmutter an uns alle.« Sie hob den Blick. »Lynneth, meinst du wirklich, ich würde dich dort nicht bemerken?«
Verlegen trat Lynn vor. »Verzeiht, Hohe Schwester. Ich wollte nicht stören.« Sie brachte ihr Anliegen vor, ob es nicht einige ältere Exemplare des Eldash-Mithral gäbe, um das eine oder andere berichtigen zu können, und die Priorin begegnete diesem Ansinnen mit Wohlwollen. Sie entließ die Kleinen und forderte Lynn auf, sie zu begleiten.
Zum ersten Mal betrat Lynn den Bereich hinter dem Schleier, der nur den Heiligen Schwestern und Anwärterinnen vorbehalten war. Er war tatsächlich durch nichts als einen dünnen Schleier vom Rest der Tempelanlage abgetrennt, aber keine der Kanonissen und niemand aus der Dienerschaft hätte es jemals gewagt, diese Grenze zu überschreiten. Sogar jetzt, an der Seite der Priorin, fühlte Lynn sich seltsam schuldig, als sie über die niedrige, marmorne Schwelle trat und der Vorhang hinter ihr wieder zurückglitt. Sie durchschritten einen weiß getünchten Tunnel, dann öffnete sich vor ihnen ein lichtdurchfluteter Raum.
Weißer Marmor bedeckte die Wände, Säulen aus dem gleichen Material strebten über mehrere Galerien empor zu einer durchbrochenen Kuppel, durch deren gläserne Scheiben Tageslicht fiel.
Lynn rief sich den Tempel in Erinnerung, wie man ihn bei der Ankunft sah: eine an und in den Felsen gebaute Ansammlung von Gebäuden, Mauern, Erkern und Zinnen, entstanden über Jahrhunderte, ästhetisch zusammengehalten nur durch den einheitlich weißen Verputz. Aber nirgendwo war ihr je eine Kuppel aufgefallen.
»Von außen sieht man die Kuppel nicht«, stellte sie fest.
»Das ist richtig. Sie ist umgeben von Felsen.«
Ehrfurchtsvoll schritt Lynn weiter in den Raum hinein. In den weißen Marmor des Bodens war ein geometrisches Muster aus dunklem Granit eingelassen, und in der Mitte wölbte sich ein polierter Monolith aus dem Boden. Seine ovale Form und die schlierenartigen Einschlüsse erinnerten an den No’Ridahl. Nur dass der Stein blau war und nicht rot.
Ringsum an den Wänden reihten sich mannshohe Nischen aneinander, in fünf Reihen übereinander bis unter die Kuppel, so hoch war der Raum. In einigen davon waren Türen eingelassen, in den meisten aber standen Regale und darin Bücher über Bücher. Dies war eine Bibliothek.
»Was du suchst, findest du hier.« Die Priorin wies auf die zweite Nische neben dem Eingang. »Das Eldash-Mithral, beginnend von dem der vierten Akh’Eldash des neuen Reiches.«
Respektvoll betrat Lynn den Raum zwischen den Regalen. Die Bücher auf der linken Seite wirkten so alt und brüchig, dass sie es nicht wagte, eines aus dem Regal zu nehmen. Womöglich würden sie in ihren Händen zu Staub zerfallen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, was die Priorin gesagt hatte. Genau so hatte sie es schon einmal formuliert. Sie wandte sich abrupt um. »Des neuen Reiches?«
Die Priorin nickte. »Des Reiches der Eldamiten.«
Lynn wies zur Seite. »Was ist dann in der ersten Nische?«
Eigentlich hatte sie erwartet, dass die Priorin sie zurechtweisen oder ihrer Neugier zumindest eine Grenze setzen würde, doch das tat sie nicht. »Dort liegen die wenigen Schriften des alten Reiches, die uns überliefert wurden – alle, bis auf die Rolle von Fengajahr.«
Des alten Reiches. Des Reiches der Eldash. Von diesen Menschen wusste Lynn nicht mehr, als dass sie die ersten Bewohner der Riefenau gewesen waren, des Landstriches zwischen dem Mutterschoß und dem Südersee.
»Warum hat uns Schwester Galabin nie mehr von den Eldash erzählt?«
»Weil diese Zeit ins Reich der Legenden gehört. Schwester Galabin legt viel Wert darauf, euch nur Dinge zu lehren, die durch Schriften zu belegen sind.«
Aber offenbar gab es doch Schriften! Lynn wechselte die Nische. Hier gab es keine Bücher, nur Schriftrollen. Sie zeigte darauf. »Darf ich?«
Die Priorin nickte.
Behutsam nahm Lynn eine der kleineren Rollen. Sie war erstaunlich schwer. Lynn wog sie in der Hand und warf der Priorin einen fragenden Blick zu.
»Das ist Pergament. Dünn gegerbtes Leder.«
Lynn versuchte, die Rolle auseinanderzubiegen, doch schnell spürte sie den Widerstand des uralten Leders und