Nicht im herkömmlichen Sinne jedenfalls. Farbige Bildchen waren in langen Reihen angeordnet, kaum eines davon wiederholte sich, soweit Lynn es erkennen konnte.
Sie legte die Rolle zurück, betrachtete eine weitere und eine dritte – stets mit dem gleichen Ergebnis.
»Ist das eine Schrift?«, fragte sie.
»Vermutlich. Aber niemand ist mehr in der Lage, sie zu lesen.«
Das war enttäuschend, aber auch irgendwie aufregend. »Was wissen wir über die Eldash? Was ist aus ihnen geworden?«
»Sie waren es wohl, die das Heiligtum fanden und als Erste die Erdmutter verehrten. Später kam aus dem Norden das Volk der Amiten. Sie wurden von einem König angeführt, und um den Frieden zu wahren, wurde der Doppelthron geschaffen, den sich die Königin der Eldash und der König der Amiten teilte. Dies ist der Beginn unserer Geschichte. Das Volk wurde zu den Eldamiten. Das zumindest sagen die Legenden.«
Während die Priorin weitersprach, entfaltete sich vor Lynns geistigem Auge die Geschichte. Sie sah wilde Krieger aus dem Norden in das Land eindringen, rau und ungeschlacht, sah die Akh’Eldash ihnen voller Würde entgegentreten und den Herrscher mit dem Zauber der Göttin besänftigen, um ihr Volk zu retten. Ob diese erste Akh’Eldash den König geliebt hatte? Oder hatte sie sich für ihr Volk geopfert? Was mochte sie über die Fremden gedacht haben, die sie gezwungen hatten, ihre Macht zu teilen?
Aber auch sie war nicht die Erste gewesen. Nur die Erste auf dem Doppelthron. Unvorstellbar, wie weit die Kette von Lynns Vorgängerinnen zurückreichte, weit über die bekannte Geschichte und die geschriebene Sprache hinaus. Sie war nicht die achtundvierzigste Akh’Eldash, es hatte noch viel mehr gegeben. Niemand wusste, wie viele es tatsächlich gewesen waren, und diese, ihre frühesten Vorgängerinnen, waren Königinnen aus eigenem Recht gewesen, nicht Anhängsel eines Mannes, dem sie den Thron sicherten und Nachkommen schenkten.
Dieser Gedanke verursachte Lynn Herzklopfen. Mit einem Mal erschien es ihr noch wichtiger, den völlig unverständlichen Text der ersten Akh’Eldash des neuen Reiches in seiner ältesten Fassung zu lesen.
»Kann ich das allererste Eldash-Mithral sehen?«
»Leider ist das in den Wirren der Zeit verloren gegangen. Das älteste Exemplar ist dieses hier«, die Priorin zog ein dünnes Buch aus dem obersten Regal. »Es stammt aus der Hand Gennahs von Nhim, der vierten Akh’Eldash.«
Das war nun wieder enttäuschend, aber vielleicht hatte Gennah von Nhim – oder auch einige ihrer direkten Nachfolgerinnen, noch Zugriff auf die originalen Schriften gehabt. Lynn reckte den Hals, um in das oberste Regal zu spähen.
»Darf ich ein paar davon mitnehmen?«
»Natürlich, aber das musst du nicht. Du hast das Recht, jederzeit diesen Raum zu betreten und jedes Buch zu lesen oder mitzunehmen.«
Erstaunt sah Lynn die Priorin an. Wie oft hatte man ihr gesagt, Neugier und Wissensdurst schickten sich nicht für Frauen, für eine Frau von Adel seien Ergebenheit und Sanftmut die höchsten Tugenden – und nun standen all diese uralten, kostbaren Papiere zu ihrer freien Verfügung? »Weil ich die Akh’Eldash bin?«
Die Priorin nickte. »Im Buch der Verheißungen steht: ›Der Akh’Eldash bleibt nichts verborgen. Sie lernt, was die Erdmutter ihr ins Herz legt.‹ Das wird so ausgelegt, dass ihr keine Schrift und keine Wissensquelle vorenthalten werden darf.«
Lynn trat aus der Nische zurück in die Halle und ließ den Blick durch den Raum bis ganz nach oben schweifen. So viele Bücher! Niemand würde sie alle in einem einzigen Leben lesen können. Dieses Wissen reizte sie schon allein deshalb, weil es unschicklich war.
»Wenn ich im Schloss bin«, sagte sie, »darf ich mir dann Bücher aus der Bibliothek schicken lassen?«
»Ja – aber einige davon enthalten geheimes Wissen, gefährliches Wissen. Sie sollten diesen Raum besser nicht verlassen.«
»Etwa über die Geister?«
Jetzt zögerte die Priorin. »Es ist nicht heilsam, sich zu viel mit ihnen zu beschäftigen.«
Lynn erinnerte sich meist nicht an ihre Träume, und im Grunde war sie froh darum. Es war unheimlich genug zu wissen, dass sich ihr eigener Geist jede Nacht in den körperlosen Gefilden aufhielt. Dennoch besaß dieses Thema eine gewisse Faszination. »Die Geister sollen denen, die sie beherrschen können, große Macht verleihen.«
Die Priorin hob die Brauen. »Die Geister sind ein Teil der Ewigkeit. Wie kann ein Sterblicher jemals glauben, sie beherrschen zu können?«
»Aber tun die Magoi nicht genau das?« Blinthe kannte die seltsamsten Geschichten über diese Männer.
»Du solltest nicht zu viel auf das Geschwätz deiner Zofe geben. Wie die meisten einfachen Leute ist sie abergläubisch und leicht zu beeinflussen, und es gibt genügend Scharlatane, die das ausnutzen.«
Tatsächlich glaubte Lynn nicht einmal die Hälfte von Blinthes Geschichten. Allerdings waren da durchaus einige, die ihr bei jedem Hören wieder eine Gänsehaut verursachten.
»Aber wenn das alles nur Lügen sind«, sagte sie, »warum ist das Wissen über die Geister dann gefährlich?«
»Ich habe nicht gesagt, dass es alles Lügen sind.« Der Blick der Priorin war nun sehr streng. »Aber wer glaubt, die Geister beherrschen zu können, der ist ein Narr, und ein gefährlicher noch dazu. Sie suchen immer ihren eigenen Nutzen.«
»Aber was könnte ein Mensch den Geistern schon bieten?«
»Sich selbst.«
Verständnislos sah Lynn die Priorin an. Diese seufzte, aber sie erklärte es. »Hast du nicht eben das Buch der Verheißung gehört? Wir sind Geist von ihrem Geist. Die Große Mutter hat einen Teil von sich selbst in jeden von uns gelegt. Jeder menschliche Geist, der verloren geht, schwächt sie, und jeder, der voll neuer Erfahrungen zu ihr zurückkehrt, macht sie stärker. Darum sollte sich die Akh’Eldash von allen Menschen am wenigsten mit den Geistern beschäftigen.«
Weil die Geister die Feinde der Erdmutter waren und die Akh’Eldash ihre Gesalbte. Aber Lynn hatte auch genug gehört. Es war eine Sache, an dunklen Herbstabenden Blinthes schaurigen Geschichten zu lauschen und den wohligen Schauder mit den Freundinnen zu teilen. Tiefer wollte Lynn in diese finstere Welt der Geister gar nicht eintauchen.
Zunächst war ihre Aufgabe das Eldash-Mithral, und nachdem sie die neuen Schätze in ihre Räume gebracht hatte, widmete sie sich diesem mit neuem Eifer.
***
Leider erwiesen sich die Texte der ersten drei Akh’Eldash selbst bei den ältesten Schriften als genauso unverständlich wie in ihrem eigenen Exemplar. Also gab Lynn es auf, zu den ersten Ursprüngen zurückzukehren, und sie verlor erst einmal auch die Lust an der Übertragung der Texte. Vermutlich blieben ihr noch Jahre dafür. Zuerst einmal wollte sie mehr über diese Frauen erfahren.
So zog sie sich mit dem Eldash-Mithral in die gepolsterte Fensternische ihres Zimmers zurück und schmökerte mal zielstrebig, mal aufs Geratewohl darin.
Neugierig und auch ein wenig ängstlich suchte sie nach einem Eintrag Vhellins von Lathem. Diese Akh’Eldash war auf dem Weg zu ihrem Bräutigam von Barbaren aus dem Westen entführt worden. Die Männer hatten sie in Unkenntnis über die Macht des No’Ridahl entschleiert und sich anschließend in einem blutigen Gefecht um sie gegenseitig zerfleischt. Vhellin selbst hatte das Massaker nicht überlebt.
Doch es gab keinen Eintrag von ihr, nur eine Notiz, die besagte, man habe ihr Exemplar des Eldash-Mithral niemals gefunden. Soweit Lynn das beurteilen konnte, war Vhellin die einzige ihrer Vorgängerinnen, die keinen Eintrag hinterlassen hatte. Die übrigen Texte zeugten von der Vielfalt der Frauen, die das Amt bisher innegehabt hatten. Manche hatten das Eldash-Mithral wie ein Tagebuch genutzt, hatten Sorgen und Ängste oder Stunden großer Freude darin festgehalten. Natürlich hatten sich viele auch damit auseinandergesetzt, was es bedeutete, die »Liebe der Göttin zu wirken«. Das half Lynn ein wenig, ihre zukünftigen Pflichten besser zu verstehen. Als Frau des Königs würde sie