Susan Boos

Auge um Auge


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mache ihn ratlos. »Etwa dreißig. Er war bei den Neonazis …«

      »… ein Aktiver?«

      »Nein, nein. Er hat die rechte Szene verlassen.«

      »Nehmen Sie ihm das ab?«

      »Der Gutachter glaubt ihm eigentlich nicht, aber ich glaube ihm. Er wurde schon als Kind ständig hin- und hergeschoben, immer wieder sehr schlecht behandelt und hat Übergriffe erlebt. Den Neonazis hat er sich angeschlossen, weil er eine Familie suchte. Dort fand er sie.«

      Ilg schildert, wie der junge Mann ins Gefängnis kam. 2012 habe er in einem Streit einen Mann angeschossen. Die Medien hätten ihn stets beim vollen Namen genannt. Aber falls er wirklich einmal rauskomme, sei es besser, wir nennten ihn hier Stefan Steiner. Inzwischen habe er die Hälfte seiner Strafe verbüßt. Die Therapeutin sei der Meinung, er mache gute Fortschritte, und empfehle Vollzugslockerungen. Nun gebe es aber ein neues Gutachten. »Ein verheerendes«, sagt Ilg, »mit einem solchen Gutachten kommt er so schnell nicht raus.«

      Der junge Mann hat Ausländer gejagt und sich Nazisymbole auf den Körper tätowieren lassen. Prügelnd hat er Angst und Schrecken verbreitet.

      Das Gutachten umfasst fast zweihundert Seiten. Ein Psychiater hat es im Auftrag der Zürcher Vollzugsbehörde erstellt. Auf der ersten Seite heißt es: »Sie baten mich, zu den Fragen einer psychischen Störung, der Deliktdynamik, des Maßnahmenverlaufs, der Legalprognose sowie der Indikation für (die Fortführung) eine(r) strafrechtlichen Maßnahme Stellung zu nehmen.« Er habe Steiner angeboten, das Gutachten zu lesen, um sich zu allfälligen Missverständnissen zu äußern und Korrekturvorschläge zu machen. »Steiner schlug diese Möglichkeit mehrfach aus.«

      In der Zusammenfassung steht: »Das gesamte Leben von Herrn Steiner ist schwer belastet. Die familiäre Situation wurde von allen Vorbeurteilern als sehr ungünstig eingestuft. Er entwickelte auf Grund fehlender verlässlicher Bezugspersonen (Heimkarriere) keinen sicheren Bindungsstil und mangelnde Ich-Strukturen. Er rebellierte schon im Primarschulalter und musste oft versetzt werden. Damals schon fiel er mit ›Tobsuchtsanfällen‹ auf und zerstörte Mobiliar und Gegenstände.« Immer wieder sei er weggelaufen. Immer wieder habe man ihn in geschlossene Einrichtungen eingewiesen.

      »Mit zirka vierzehn Jahren lernte er die rechtsextreme Szene kennen und betrachtete sie als seine Ersatzfamilie«, schreibt der Psychiater später. »Er delinquierte wiederholt mit rassistisch motivierten Straftaten, fiel durch permanentes Tragen von (auch Schuss-)Waffen auf und wurde mehrfach von der Jugendanwaltschaft verurteilt. Daneben fand sich Gewalt auch in Alltagssituationen ohne rassistischen Hintergrund. Verschiedene ambulante wie stationäre Jugendmaßnahmen schlugen fehl, bis die Jugendanwaltschaft mit Erreichen des 18. Lebensjahres resigniert feststellte, dass sämtliche zur Verfügung stehenden Hilfestellungen ausgeschöpft seien und er mit Erreichen der Volljährigkeit eine 10-monatige Haftstrafe antrat.« So geht es über Seiten weiter.

      Im Mai 2012 kam es zu der Tat.

      »Obwohl Herr Steiner annahm, von der Polizei ausgeschrieben zu sein, steckte er sich eine durchgeladene und schussbereite Pistole in den Hosenbund und ging in den Ausgang. Auch diesmal befürchtete er, angegriffen zu werden und bewaffnete sich, um sich bei Bedarf verteidigen zu können«, heißt es im Gutachten. »Im Ausgang traf er zufällig auf das spätere Opfer X.Y. Das Obergericht ging später davon aus, dass es aus verschiedenen Gründen […] zu einem Streitgespräch gekommen sei. Herr Steiner eskalierte den Konflikt in erheblichem Maße und schoss X.Y. aus nächster Nähe in die Brust. Dabei nahm das Gericht an, dass er unter anderem aus einem Rachebedürfnis heraus gehandelt habe.«

      Das Opfer hatte sich wie Steiner früher in der rechten Szene bewegt. Es überlebte. Steiner floh nach Deutschland, wo er verhaftet und an die Schweiz ausgeliefert wurde.

      Im Gutachten heißt es weiter: »Im Rahmen des Strafverfahrens gab Herr Steiner zwar die Tat zu, bestritt aber, vorsätzlich gehandelt zu haben. Er zeigte keine Reue und gab dem Opfer sogar die Schuld, ihn zur Tat provoziert zu haben, was das Gericht widerlegen konnte. Der Prozess bis zur rechtskräftigen Verurteilung 2016 dauerte sehr lange, was unter anderem auf die fehlende Kooperation von Herrn Steiner zurückzuführen war, da er die Mitwirkung am Gutachten verweigerte, verschiedene Beschwerden einreichte und gegen die erstinstanzliche Verurteilung, die unter anderem eine Verwahrung ausgesprochen hatte, appellierte.«

      Stefan Steiner wurde schließlich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und mehrfachem Vergehen gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Jahren verurteilt. Die Verwahrung, die die erste Instanz noch ausgesprochen hatte, wurde aufgehoben. Stattdessen ordnete das Gericht eine ambulante Maßnahme an. Steiner bekommt während des Strafvollzugs eine Therapie.

      Die ersten Jahre saß er in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies ab. Später wurde er ins Gefängnis Lenzburg verlegt. Inzwischen hat Steiner eine Therapeutin, mit der er sich gut versteht. Das steht auch so im Gutachten. Trotzdem habe Steiner eigentlich keine therapeutischen Fortschritte gemacht. »Statt sich mit seinen problematischen Anteilen auseinanderzusetzen, verstrickte er sich in umfangreichen Vorwürfen und Beschwerden. […] Es zeigte sich recht bald, dass er das gesamte Schweizer Rechtssystem, sämtliche Behörden und Ämter verachtete und sein Selbstbild daraus bestand, gegen dieses verhasste System zu kämpfen. Es ist absehbar, dass sich daraus ein Dilemma ergeben muss, da im Rahmen einer Maßnahme unter anderem gefordert wird, sich dem ›System‹ zu unterwerfen und sich zu integrieren. Gerade dies lehnt Herr Steiner vehement ab.« Und wenn Steiner behauptet habe, vor zehn Jahren die rechtsextreme Szene verlassen zu haben, könne es sich um eine taktische Angabe handeln. Noch 2008 seien eine Hakenkreuzfahne und ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Amok gegen das System« bei Steiner sichergestellt worden.

       6Steiner unterwirft sich nicht

      Stefan Steiner sitzt in der Strafanstalt Lenzburg ein. Es ist ein klassischer panoptischer Bau. Von oben sieht er aus wie ein fünfzackiger Stern. Das Gefängnis wurde vor hundertfünfzig Jahren gebaut. Damals galt es als sehr modern. Es ist ein historischer Bau, ausgestattet mit modernster Technik. Das erlaubt es den Gefangenen, sich relativ frei zu bewegen. Sie reden nicht schlecht über Lenzburg, auch, weil die Leitung als progressiv gilt. Sie lässt unkonventionelle Projekte zu, wie zum Beispiel ein Knasttheater.

      Für das Interview mit Steiner wird mir erlaubt, ein Aufnahmegerät mitzubringen. Wir dürfen uns in einem Anwaltszimmer unterhalten.

      Ein schlanker, durchtrainierter Mann steht vor mir, kurzes Haar, grüner Pullover, Turnschuhe, klassische Gefängniskleidung. Er steht aufrecht wie ein Gardesoldat. Zum Gruß reicht er die Hand und bietet etwas zu trinken an. Es folgt das übliche Gefängnisbesuchsritual – man geht zum Automaten, lässt Kaffee raus oder ein Fläschchen Mineralwasser und beginnt eine erste unverfängliche Unterhaltung.

      In den folgenden zwei Stunden erzählt er sein Leben.

      Als Kind kam er in Pflegefamilien, wurde von Heim zu Heim verschoben und immer wieder misshandelt. Er war sicher kein einfaches Kind, sagt er heute von sich. Aber er habe nicht verstanden, was damals abging. Und vor allem hatte er lange Zeit niemandem erzählt, wie schrecklich die Misshandlungen waren. Er wehrte sich, schlug um sich, versuchte sich zu verteidigen.

      »Verprügelt zu werden war aber nicht das Schlimmste«, sagt er.

      »Was war denn das Schlimmste?«

      »Das