Susan Boos

Auge um Auge


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dieses Element in die Strafbemessung aufzunehmen, laufen wir wieder in Privatfehden hinein. Der Staat hat die Strafe monopolisiert. Er hat gesagt: Ich sorge dafür, dass Gerechtigkeit da ist; die Vergeltung übernehme ich. Wenn er nun sagt: Die Rache spielt bei der Höhe der Strafe überhaupt keine Rolle – was ich persönlich finde –, nährt er den Gedanken bei den Opfern, sie müssten sich selbst rächen, wenn der Staat es nicht tut.« Deshalb sei die Härte der Strafen ein notwendiges Kriterium.

      Als Anwalt hatte er Klienten, denen die Verwahrung drohte. »Aber das habe ich immer vorzeitig abgebremst, indem ich mit den Bezirks- und Staatsanwälten vorher geredet habe, damit sie den Antrag vor Gericht gar nicht stellen.« Selbstverständlich habe er immer versucht, eine Verwahrung abzuwenden, das sei die Aufgabe eines Verteidigers. »Die Verwahrung ist ein nachvollziehbares Konstrukt – jemand wird für immer weggesperrt, und dann hat man Sicherheit. Nur geht das Konstrukt nicht auf. Irgendwann ist der Betreffende achtzig, ist vielleicht invalid, kann gar kein Delikt mehr begehen und kostet im Gefängnis enorm viel Geld. Deshalb muss jeder Fall von Verwahrung immer wieder einmal angeschaut werden. Gerade die lebenslängliche Verwahrung ist ein Schlagwort; in der Umsetzung funktioniert sie so nie.«

      Leuenberger spricht die Gesetzgebung an. Schon vor dem Fall Hauert war klar, dass das Strafgesetzbuch überarbeitet werden muss. Es war seit 1941 in Kraft und musste grundsätzlich durchgebürstet werden. Der Mord am Zollikerberg beeinflusste insbesondere das sogenannte Maßnahmenrecht.

      Die »Maßnahme« ist ein verwirrender Begriff. Die Strafe ist Sühne für begangenes Unrecht. Eine Maßnahme hat demgegenüber nichts mit Strafen zu tun. Die Corona-Pandemie hat nachvollziehbar gemacht, was Maßnahmen sind. Die Regierung ordnete an, dass sich die Bürger nicht mehr frei bewegen durften – zum Schutz der Allgemeinheit, nicht als Strafe. Die Verwahrung folgt derselben Logik. Gefährliche Täter werden, nachdem sie ihre Strafe verbüßt haben, nicht entlassen, sondern in einer Quarantäne gehalten – zum Schutz der Allgemeinheit. Maßnahme und Strafe sind also zwei völlig unterschiedliche Dinge.

      Artikel 59 des Strafgesetzbuchs (StGB) wird gerne als »kleine Verwahrung« bezeichnet. Diese Maßnahme wird verhängt, wenn das Gericht Straftäter:innen für psychisch gestört, aber therapierbar hält. Es ordnet deshalb anstelle der Strafe, die relativ gering sein kann, eine »stationäre, therapeutische Maßnahme« an, die in einer spezialisierten Einrichtung oder einem Gefängnis vollzogen wird. Die therapeutische Maßnahme dauert bis zu fünf Jahre, kann aber mehrmals verlängert werden.

      Artikel 64 des Strafgesetzbuchs regelt die eigentliche Verwahrung. Das Gericht verhängt sie, wenn es davon ausgeht, dass die Öffentlichkeit vor einer Person geschützt werden muss, weil diese als gefährlich respektive psychisch gestört und nicht therapierbar eingeschätzt wird. Die normale Verwahrung ist unbefristet, muss jedoch regelmäßig überprüft werden.

      Artikel 123a der Bundesverfassung umschreibt die »lebenslängliche Verwahrung«, die von keiner Instanz aufgehoben werden kann. Mit diesem Artikel hat es eine besondere Bewandtnis. Katja, die Patentochter von Anita Chaaban, war fünfzehn Jahre alt, als sie vergewaltigt wurde. Das passierte kurz nach dem Mord am Zollikerberg. Der Täter bekam eine Strafe von achtzehn Jahren. Bei guter Führung wäre er nach zwölf Jahren wieder draußen. Chaaban konnte das nicht fassen. Sie gründete die Selbsthilfegruppe »Licht der Hoffnung – Gemeinsam gegen Gewalt«. Die Gruppe lancierte eine Volksinitiative unter dem Titel »Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter«.

      Anfänglich standen keine Partei und keine andere namhafte Organisation dahinter. Doch die kleine Gruppe brachte in kurzer Zeit die Unterschriften zusammen. Anfang 2004 wurde über die plötzlich allseits bekannte »Verwahrungsinitiative« abgestimmt. Daraus wurde ein politischer Kampf SVP gegen den Rest, den die Rechte deutlich gewann. Seither steht in der Bundesverfassung: »Wird ein Sexual- oder Gewaltstraftäter in den Gutachten […] als extrem gefährlich erachtet und als nicht therapierbar eingestuft, ist er wegen des hohen Rückfallrisikos bis an sein Lebensende zu verwahren. Frühzeitige Entlassung und Hafturlaub sind ausgeschlossen.« Entlassen werden könne er nur, falls »durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse erwiesen wird, dass der Täter geheilt werden kann und somit keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt.« Kommt jemand raus und wird trotzdem rückfällig, »so muss die Haftung von der Behörde übernommen werden, die die Verwahrung aufgehoben hat«.

      Ein Journalist fragte einmal Anita Chaaban: »Wie viel Jahre Gefängnis fordern Sie denn für den Täter? 30, 40 Jahre?«

      »Es geht nicht um die Anzahl Jahre. Ein Triebtäter darf ganz einfach nie mehr die Möglichkeit erhalten, noch ein Verbrechen zu begehen.«

      »Sie meinen Kastration?«

      »Das bringt überhaupt nichts. Das Problem solcher Triebtäter spielt sich doch eigentlich im Kopf ab.«

      »Also Kopf ab – Todesstrafe?«

      »Auf gar keinen Fall. Ich bin eine Gegnerin der Todesstrafe. Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen zu töten.«

      »Was wollen Sie dann?«

      »Es gibt nur ein vernünftiges Strafmaß, lebenslange Verwahrung.«

      Das hat sich in den Köpfen festgesetzt. Die breite Bevölkerung ist der Überzeugung, nur wer lebenslänglich verwahrt sei, komme nicht mehr raus. Das stimmt so nicht. Eine lebenslängliche Strafe dauert immer lebenslänglich, wenn ein Täter gefährlich ist, auch ohne Verwahrung.

      Dass der Mord am Zollikerberg eine Zäsur darstellt, lässt sich an Zahlen ablesen.

       4Die Vermessung der Gefährlichkeit

      Frank Urbaniok, jung, engagiert, unbelastet, ein drahtiger Mann mit schmalem Gesicht und Ring im Ohr. Er hat ein Instrument entwickelt, das die Gefährlichkeit von Menschen erfassen soll, das »forensische operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluations-System«, kurz Fotres.

      Wir treffen uns im Psychiatrisch-Psychologischen Dienst des Kantons Zürich, den er zu der Zeit noch leitet. Der Dienst befindet sich in einem nüchternen Gebäude, das zwischen anderen nüchternen Bürogebäuden im Westen der Stadt Zürich steht, gleich neben dem Bahnhof Altstetten. Es ist heiß. Die Jalousien sind geschlossen.

      Zuerst will er wissen, wie ich auf das Thema gekommen bin. Das hat unter anderem mit Ralf Scherrer zu tun, dessen Fall ich seit Jahren verfolge. Ralf Scherrer ist ein Pseudonym. Ein Mann, Mitte fünfzig, pädophil. 2005 wird er verhaftet. Das Gericht verurteilt ihn zu 35 Monaten Gefängnis. Die Strafe wird aber »zugunsten einer Maßnahme aufgeschoben«, wie das in Juristensprache heißt. Er soll also therapiert werden.

      Scherrer opponiert ständig. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, schreibt er Beschwerden. Er fühlt sich oft ungerecht behandelt und wird von einer Anstalt in die andere verlegt. Seine Aufsässigkeit führt dazu, dass die Maßnahme immer wieder verlängert wird. Am Ende ist er zwölf Jahre eingesperrt für ein Delikt, für das er vier Jahre hätte sitzen müssen. Eine richtige Therapie hat er die ganze Zeit nicht erhalten. Seine Renitenz