Susan Boos

Auge um Auge


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werde und endlich nicht mehr gegen das kaum je völlig verschwindende, obskure unterschwellige Gefühl ankämpfen muss, es könnte mir in dieser Lage etwas passieren, dem ich völlig wehrlos ausgesetzt wäre, dem ich nicht entrinnen könnte.«

       3Der Mord am Zollikerberg

      Es ist der 30. Oktober 1993, ein Samstag. In Bosnien herrscht Krieg. In Sarajewo wird geschossen, mindestens zwanzig Menschen sterben dort an diesem Tag. Die baskische Untergrundorganisation ETA lässt eine Geisel frei. In der Schweiz trifft sich die CVP zur Delegiertenversammlung. Das Thema ist die innere Sicherheit. Der damalige Justizminister Arnold Koller listet auf, was sein Departement alles geplant hat, von neuen Strafnormen gegen das organisierte Verbrechen bis zu den sogenannten Zwangsmaßnahmen gegen Ausländer. Er sagt, das verbreitete Gefühl der Unsicherheit könne nicht allein auf die Kriminalität zurückgeführt werden, sondern müsse andere Ursachen haben. Im letzten Jahr sei die Gesamtkriminalität gesunken. »Die Gefahr, auf der Straße zu verunglücken oder gar überfallen zu werden, ist wesentlich kleiner, als im eigenen Haushalt zu verunglücken«, sagt der CVP-Bundesrat.

      An diesem Tag geschieht ein Mord, der die Schweiz verändern wird. »ZOLLIKERBERG ZH. Die 20-jährige Pfadiführerin Pasquale Brumann ist am Samstag in einem Waldstück in der Nähe ihres Wohnortes von einem unbekannten Täter umgebracht worden. Die angehende Krankenschwester hätte am Samstag um 13 Uhr bei ihrer Pfadigruppe sein sollen – erschien jedoch nicht beim Treffpunkt Allmend-Zollikon. Die Polizei suchte bereits am Samstag das Gelände mit Hunden ab, gestern halfen Pfadfinder. Gegen 15 Uhr wurde die junge Frau gefunden – verscharrt im losen Waldboden«, schreibt Blick am Montag, dem 1. November.

      Die Boulevardzeitung setzt eine Gruppe von Reportern auf den Fall an. Einige Tage später berichten sie: »Der sonnige Samstag sollte für die angehende Krankenschwester und begeisterte Pfadiführerin Pasquale Brumann ein besonderer Freudentag werden: In den letzten Monaten hatte sie rund ein Dutzend Pfadis zu Führern ausgebildet und wollte ihnen an einer kleinen Feier die Urkunden überreichen. Fröhlich marschierte sie durch den lichtdurchfluteten Herbstwald. Zwischen 12.45 Uhr und 13 Uhr muss Pasquale ihrem Mörder begegnet sein. Der hat sie auf bestialische Weise umgebracht. Die nackte, misshandelte, stark verschmutzte Leiche wurde von den Suchtrupps der Polizei am Sonntag gefunden. Verscharrt unter einem Baumstrunk. […] Zu den Hinweisen, dass der jungen Pfadiführerin die Kehle durchtrennt worden ist, wollte Polizeisprecher Markus Atzenweiler noch keine Stellung nehmen, schloss ein Sexualdelikt auch nicht aus.«

      Eine Woche nach der Tat folgt das Geständnis. Es war ein Häftling auf Freigang. Blick schreibt: »Der zweifache Frauenmörder Erich Hauert (34) gestand gestern, Pasquale Brumann (20) mit einem Messer getötet zu haben. Als ob nichts geschehen wäre, war der Sex-Killer Erich Hauert am Sonntagabend nach seinem Hafturlaub wieder in die Strafanstalt Regensdorf zurückgekehrt. Ein Mithäftling zu Blick: ›Aber er trug andere Kleider und hatte Kratzspuren. Das fiel nach Bekanntwerden des Mordes auf.‹ Für die Tatzeit hatte Hauert kein Alibi. Am Tatort soll ein Schuhabdruck gefunden worden sein, der auf Hauerts Größe passt. Weiter wurden Spuren von Sperma auf dem nackten Körper der jungen Frau gefunden.«

      Nicht nur Blick, dieses Mal berichten auch alle anderen Zeitungen atemlos. Es ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Hauert ist acht Jahre zuvor wegen zweifachen Mordes, zehn Vergewaltigungen und mehreren Raubüberfällen zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Trotzdem darf er alleine seinen Therapeuten aufsuchen. Bei einem dieser Freigänge kauft er sich Klebeband und ein Messer. Er geht in den Wald, der nicht weit von der Praxis seines Therapeuten liegt. Es ist der Wald von Zollikerberg, einem Dorf zwischen Zürichsee und Greifensee. Dort gibt es keinen Berg, der Zollikerberg heißt, aber eben diesen Wald. Pasquale Brumann durchquert ihn und wird zu Hauerts Opfer, zufällig; es hätte auch eine andere Frau treffen können.

      Die Leute sind schockiert. In Leserbriefspalten wird die Todesstrafe gefordert. Doch der Zorn richtet sich vor allem gegen die, die zugelassen haben, dass Hauert sich frei bewegen durfte.

      »Es war ein Psychiatriemord! Nie können Triebtäter als geheilt bezeichnet werden. Hafturlaub für Schwerstverbrecher – wir alle waren ahnungslos. Aber das in den Augen der Spezialisten dumme Volk darf ja betrogen werden. Unsere Meinung interessiert keinen. Wie lange noch?«, schreibt R. S. aus Zürich.

      »An die Herren Psychiater, Therapeuten, Psychologen, Sozialhelfer: Bald könnt ihr euren Schützling wieder in die Arme schließen, ihn trösten, ihm gut zureden, Verständnis zeigen, und er kann guten Mutes sein, nach ein paar Jährchen das Gefängnis wieder verlassen zu dürfen. Was, wenn eure Kinder Opfer von Gewalt würden?«, schreibt R. D. aus Winterthur.

      »Empörend! Schon wieder wurde einem Schwerverbrecher Urlaub gewährt, der ja eigentlich nach zwei Morden und 10 Vergewaltigungen eher an den Galgen gehörte. Herr Leuenberger, wenn Sie nur einen Funken Mitgefühl für die schwergeprüfte Familie Brumann haben, übernehmen Sie die politische Verantwortung und treten Sie zurück.« schreibt W. B. aus Richterswil ZH.

      Drei Jahre später findet der Prozess statt. Es ist mehr als ein Prozess gegen einen Mörder. Es ist auch ein Prozess gegen die Justiz. Schon Mitte der achtziger Jahre war Hauert begutachtet worden. Der Psychiater schreibt, Hauert habe einen »starken Drang zur aggressiven Bemächtigung der Umwelt«. Tötungsfantasien und eine zu geringe Ich-Stärke zu ihrer Abwehr ergäben eine unheilvolle Kombination. »In solchen Perioden ist die Gefahr groß, dass die aggressiven Strebungen und möglicherweise auch Größenfantasien ins Verhalten durchschlagen.«

      Hauert hat alle Frauen nach einem ähnlichen Muster umgebracht: Einstiche im Rücken, Schnitte am Hals, bis zum Durchschneiden der Kehle. Eine 19-jährige Radfahrerin holte er bei Solothurn vom Rad, quälte sie, schlug sie mit einer Stahlrute, bis sie sich nicht mehr regte. Dass sie überlebte, war ein Wunder. Die Taten gleichen denen eines Serienkillers, die immer brutaler werden. Die Leute mögen solche Geschichten, wenn sie im Fernsehen kommen. Nur ist es dieses Mal real.

      Erich wird 1959 als unerwünschtes Kind in Basel geboren. Der Vater ist Alkoholiker und erschießt sich, als der Junge elf Jahre alt ist. Seine Mutter arbeitet als Serviertochter und hat kaum Zeit, sich um ihren Sohn zu kümmern. Erich bekommt einen Vormund, wird zuerst in einer Pflegefamilie und später in Heimen untergebracht. In der Pflegefamilie wird er täglich mit dem Teppichklopfer misshandelt. Im Kinderheim gibt es Stockschläge. Als Erich einmal erwischt wird, wie er Brotreste im Klo entsorgen will, wird er gezwungen, das Brot herauszufischen und aufzuessen.

      Erich macht bei Migros eine Lehre. Er absolviert die Rekrutenschule und wäre Unteroffizier geworden, wenn er nicht bei einem bewaffneten Raubüberfall erwischt worden wäre. Er lebt als Einzelgänger, hält Frauen für hochnäsig und berechnend.

      Als er nach den beiden ersten Tötungsdelikten begutachtet wird, sagt er, die beiden Frauen seien an ihrem Tod mitschuldig gewesen, weil sie sich übertrieben gewehrt hätten. Er hält die beiden Tötungen für »Schicksal«, »Pech«, »unglückliche Umstände«.

      Egal wie schlimm seine Kindheit war, Hauert gehört zu den Menschen, die man nie mehr in Freiheit sehen möchte. Ein grausamer Mensch, der mit allergrößter Wahrscheinlichkeit mit keiner Therapie zu entschärfen wäre.

      Das Zürcher Obergericht verurteilte ihn im September 1996 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe und schiebt die Strafe zugunsten einer Verwahrung auf unbestimmte Zeit auf. Hauerts Verteidiger hatte wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit eine Strafe von nur fünfzehn Jahren beantragt. Allerdings fand auch er, Hauert müsse auf unbestimmte Zeit verwahrt werden. Der Verteidiger fügte an: Dieser Antrag ergehe mit dem Einverständnis seines Mandanten, Hauert habe das Sicherungsbedürfnis der Öffentlichkeit anerkannt. Er wird nie mehr freikommen.

      Vom ersten Tag nach dem Mord steht der monumentale Vorwurf im Raum: Wie konnte das passieren?

      In der Verantwortung ist Moritz Leuenberger. Seine Karriere beginnt als Anwalt in Zürich. Zwanzig Jahre lang hat er in der Langstrasse ein Büro. Viele Jahre sitzt er im Nationalrat. 1991 wird er in die Zürcher Regierung gewählt. Bei Hauerts Hafturlaub ist er der zuständige Justizdirektor. Er müsste die Frage beantworten können,