Susan Boos

Auge um Auge


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      »Sie halten mich immer noch für gefährlich. Ich bin übergewichtig, gehe am Stock, kann mich kaum fortbewegen. Aber sie halten mich für hochgradig fluchtgefährdet.« Er lacht. »Nur, wohin soll ich fliehen? Wovon soll ich leben? Dann haben sie noch geschrieben, es bestehe die Gefahr, dass meine Angehörigen mir vielleicht bei der Flucht helfen.« Er lacht wieder.

      »Ich sage Ihnen, es ist nicht schwer, aus einem Schweizer Gefängnis davonzulaufen. Aber wovon soll ich leben, wenn ich abhaue? Ich habe kein Geld.«

      »Ihre Angehörigen könnten Ihnen Geld geben für die Flucht.«

      »Ich habe keine Angehörigen, die Geld haben. Meine Exfrau arbeitet bei der Spitex, die eine Tochter ist in einem Callcenter angestellt, die andere in einer Liegenschaftsverwaltung, eine gute Bekannte bei einem Paketdienst. Ich habe zu niemandem Kontakt, der reich ist.«

      Als er vor dreißig Jahren ausgebrochen sei, da sei das etwas anderes gewesen, sagt er. »Da bin ich durch halb Europa getourt, da konnte ich arbeiten. Das geht heute nicht mehr.«

      Seit vielen Jahren sitzt er nun im Gefängnis Bostadel. Die Chance, dass er rauskommt, ist gering. Deshalb möchte er gerne Selbstmord machen, sauber und ordentlich, von Exit begleitet.

      Das Fernsehen berichtete darüber. Die Boulevardzeitung titelte: »Kinderschänder bettelt um Sterbehilfe!«

      Die Debatte kocht, die Kommentare sprudeln.

      »Für solche Täter sind nicht Gefängnisstrafe und Verwahrung die Sühne, sondern der Tod. Darum lasst ihn gehen. Die Opfer können so mit dem grausam Erlebten endlich abschließen.«

      »Eigentlich wäre es mir schon recht, wenn solche Leute den Hut nehmen könnten. Als Steuerzahlerin bin ich aus Kostengründen jedenfalls schwer dafür.«

      »Wie die Todesstrafe ist auch die Verweigerung eines Todeswunschs abzulehnen. Geschieht dies nicht, führt dies zu einer unmenschlichen und bestialischen Gesellschaft, und wir alle werden zu Tätern.«

      »Dieser Mann soll im Knast schmoren bis zum bitteren Ende. Er soll so leiden, wie seine Opfer gelitten haben. Ich hoffe sehr, dass das Gesuch bei Exit abgelehnt wird«.

      Das Wort »schmoren« kam häufig vor. Das war vor Monaten. Vogt schmort immer noch.

      Was bringt einen Menschen dazu, sich im Gefängnis geordnet das Leben nehmen zu wollen? Soll er das dürfen? Was tun wir eigentlich mit hochgefährlichen Menschen? Für immer präventiv wegsperren? Und warten, bis sie im Gefängnis von selbst sterben?

      Darum geht es in diesem Buch.

       2Briefe aus der Zelle

      Beat Meier hatte immer wieder Briefe an die Redaktion geschrieben. Der Absender auf Meiers Briefen lautet unverfänglich: Roosstrasse 49. Das ist die Adresse der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, das größte Gefängnis der Schweiz, nicht weit vom Flughafen Zürich entfernt.

      Am Tag des ersten Besuches liegt der Himmel wie ein grauer Deckel über Regensdorf mit seinen Hochhäusern, Mehrfamilienhäusern, Einfamilienhäusern und der Justizvollzugsanstalt (JVA). Von der Busstation geht man an der Pöschwies 45 vorbei. So heißt das Geschäft, das aussieht wie eine gewöhnliche Gärtnerei, aber der Gefängnisladen ist. Dort kann man alles kaufen, was die Häftlinge produzieren. Taschen, die »Jail-Bag« heißen, Geschreinertes, Blumen und viel Krimskrams. Hinter dem Laden verläuft der Zaun. Oben ist er dreifach mit scharf geschliffenem Stacheldraht gesichert. Es folgt ein Streifen Wiese. Dahinter erhebt sich ein hoher Betonwall. Hinter dem Wall gibt es nochmals einen Zaun mit Stacheldraht, doch das sieht man nur auf Luftaufnahmen.

      Der Zaun endet. Die Mauer wird unterbrochen durch einen Betontrichter mit Hütchen und weißer Tür. Darüber steht »Eingang«. Es gibt keinen Türgriff. Nirgends ein Fenster, nirgends ein Schild, nirgends ein Mensch, den man fragen könnte.

      Auf der Besuchsbewilligung stand, wenn man zu spät sei, werde das von der Besuchszeit abgezogen. Neben dem Eingang eine Gegensprechanlage mit Klingelknopf, darüber eine Kugel. Man ahnt, dass das eine Kamera ist.

      Es ist zehn vor neun. Eine Frau mit einer schweren Tasche kommt hinzu. Sie scheint sich auszukennen, geht zum Eingang, klingelt. Eine Stimme weist an, zu warten. Es beginnt sanft zu regnen. Die Betonbänke neben dem Eingang sind feucht. Es gibt nichts, wo man sich unterstellen könnte. Die Architektur dieses Eingangs macht jeden klein, der davor steht.

      Die Frau mit ihren beiden Taschen sagt, dass sie ihren Mann besuche. In den Taschen hat sie Essen, weil er das Essen drinnen nicht mag. Sie spricht kaum Deutsch. Wir warten und werden nass.

      Nach zehn Minuten, exakt um neun Uhr, schiebt sich die Türe lautlos auf. Ausweis abgeben, persönliche Sachen in einem Kästchen einschließen, durch die Schleuse gehen. Wie am Flughafen muss man einen Metalldetektor passieren.

      Nur Stift und Papier sind erlaubt. Uhr ist nicht erlaubt, Kaugummi ist nicht erlaubt, Aufnahmegerät auch nicht.

      Im Besucherraum stehen ein Dutzend Tische und Stühle. Der Raum hat die Aura eines Bahnhofwartesaals. Hinter einer Glasscheibe sitzt ein Uniformierter und wacht über Besuch und Gefangene.

      Ein Mann schlurft auf einen Stock gestützt herein. Das muss Beat Meier sein. Das weiße lange Haar fällt ihm ins Gesicht. Er trägt eine ausgebeulte Hose. Sein T-Shirt hat Flecken. Der weiße Bart reicht bis zum Bauchnabel. Seine Nägel und Haare sind gelb verfärbt. Er riecht nach Zigarettenrauch.

      Meier bittet mich an einen Tisch in der Ecke, dort seien wir ein bisschen ungestörter. Er mag es nicht, wenn die anderen zuhören können. Am Automaten lässt er zwei Kaffees heraus und beginnt zu erzählen. Er scheint nervös und möchte vieles gleichzeitig sagen. Er weiß, er hat für seine Geschichte nur eine Stunde Zeit. Es ist schwer, ihm zu folgen.

      Er war ein Verdingkind, in Heimen untergebracht, wurde misshandelt und sexuell missbraucht. Später ging er zur See, war viel im Ausland unterwegs. Dann lernte er jemanden kennen, der ihn in diese unglaubliche Geschichte hineingeritten hat. Über diesen Bekannten traf er eine Frau aus der ehemaligen DDR; sie hatte zwei minderjährige Söhne. Meier heiratete die Frau. Die Familie zog in den Aargau. Dort begann die Hexenjagd, sagt er. Sein Bekannter beschuldigte Meier, er habe die Stiefsöhne missbraucht und andere schlimme Sachen gemacht. Alles nicht wahr, sagt Meier, aber er habe sich nicht wehren können. Seine Stiefsöhne hätten ihn bei den ersten Befragungen noch entlastet. Sie seien dann aber sehr unter Druck gesetzt worden. Am Ende hätten sie ausgesagt, was die Polizei von ihnen habe hören wollen.

      Beharrlich beteuert er, er habe sich nie an seinen Stiefsöhnen vergangen. Früher, ja, da habe er einen Fehler gemacht, das wisse er. Aber das mit den Stiefsöhnen stimme nicht. Die kämen ihn immer noch besuchen. Sie würden heute auch sagen, dass das alles gar nicht wahr sei, was sie damals vor der Polizei bezeugt hätten.

      2011 hat er mit sieben anderen Verwahrten die Selbsthilfegruppe Fair-wahrt? gegründet. Es ist ein Verein, der von Leuten draußen unterstützt wird, sagt er. Er könne Adressen vermitteln.

      Ein Gong. Die Stunde Besuchszeit ist vorbei. Das Gespräch ist mitten im Satz zu Ende.

      Zurück durch die Schleuse, die Sachen aus dem Kästchen holen, Ausweis zurücknehmen. Die Türe öffnet sich lautlos. Man steht wieder auf dem Parkplatz vor dem Tor.

      Sexualstraftäter sind schwierige Täter. Eine Freundin von mir, eine Psychiaterin, hat einmal apodiktisch gesagt, Vergewaltiger könne man nicht therapieren. Die täten es immer wieder, deshalb müsse man sie wegsperren, da lasse sich leider nicht viel machen. Bei Pädophilen sei das nicht viel anders. Die könnten noch im hohen Alter übergriffig werden.

      Beat Meier gehört wie Peter Vogt zu den prominenten Häftlingen. Über ihn wurde schon viel geschrieben, stets mit vollem Namen.

      Die Nachrichtenagentur sda berichtete 1997 über den Prozess.

      »›Ich bin pädophil‹, sagte Beat Meier vor Gericht unumwunden. Er habe diese Veranlagung seit frühester Kindheit, sei von der Familie abgeschoben, als Heimkind