Julia Meier

Inselromane


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und „Männlichkeit“ aufmerksam gemacht haben. Die Differenzierung zwischen biologischer und soziokulturell konstruierter Geschlechtsidentität führt, bezogen auf die Literaturwissenschaft, zu einer Reihe von Fragestellungen, die sich mit der Darstellung bzw. Inszenierung von Männer- und Frauenfiguren im Spannungsfeld der Konstruktion von Sex und Gender auseinandersetzen.1

      Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Repräsentation von Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrer Historizität zu untersuchen ist, da „der konstruktivistische Blick insgesamt eine historische Perspektive geradezu einfordert“ (Frevert 1995: 14).

      Die Fülle von Reflexionen über die Zuschreibungen männlicher und weiblicher Wesensart, die besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schon fast überwältigende Dimensionen annahm, zeigt vor allem Versuche, aus bestimmten Interpretationen physiologischer Geschlechterdifferenz psychische und charakterliche Merkmale des Weiblichen zu konstruieren und festzuschreiben. Die so entstandene „Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“ (Hausen 1976)2 wurzelte in politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen, die durch die geschlechtsspezifischen Deutungen anatomischer Befunde nun auch naturwissenschaftlich untermauert wurden; gleichzeitig schuf diese Polarisierung ihrerseits neue, von einer rigorosen Geschlechtertrennung bestimmte Verhältnisse. Die Etablierung der Geschlechterdichotomie stand im Dienst der Erhaltung der bestehenden patriarchalischen Machtverhältnisse, deren Fundament durch das Streben nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ aller Menschen erschüttert zu werden drohte. Dies war der eigentliche Grund, weshalb die „Naturgegebenheit“ der weiblichen Andersartigkeit und, darauf basierend, auch die Notwendigkeit einer bestimmten geschlechtsspezifischen Rollen- und Aufgabenzuweisung bewiesen werden musste, was unter grossem Aufwand theoretischer Schriften aus allen Bereichen der Wissenschaften auch geschah. Wie Claudia Honegger aufgrund eingehender Quellenstudien darlegt, setzte um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Schaffung einer eigentlichen „weiblichen Sonderanthropologie“ ein, mit der physiologisch nachgewiesen werden sollte, dass die geringere physische Stärke der Frau eine grössere nervliche Sensibilität zur Folge hatte, woraus die Notwendigkeit bzw. Berechtigung abgeleitet wurde, der Frau spezifisch „weibliche“ Tätigkeitsbereiche zuzuweisen (Honegger 1996). Der Autorin zufolge lautet die Quintessenz verschiedener moral-physiologischer Schriften aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: „Die Frau ist ein Wesen für sich, mit einer eigenen Körperlichkeit, eigenen Krankheiten, eigenen Sitten, eigener Moral und eigenen kognitiven Fähigkeiten“ (Honegger 1996: 166).3

      Diese historischen Gegebenheiten der Situation von Sex und Gender sollen einbezogen werden, wenn nach dem Stellenwert der vermehrten Neuschaffung von Frauenfiguren in den IS gefragt wird; dabei ist allerdings zu bedenken, dass literarische Figuren nicht zwingend Befunde wissenstheoretischer Schriften widerspiegeln müssen. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang etwa nach Bildern oder Konzepten, welche die binäre Opposition männlich – weiblich allenfalls durchkreuzen, die Geschlechtergrenzen verschieben, die „Ordnung der Geschlechter“ destabilisieren. Eine für die vorliegende Arbeit ebenfalls relevante Frage ist, ob sich Oehlenschlägers Roman auch im Hinblick auf männliche und weibliche Stimmen als polyphon erweist: Wird den Frauenfiguren eine genuin eigene Stimme zugestanden, oder dominiert männliche Monophonie?4 Für die Behandlung dieser und ähnlicher Fragen liesse sich auch psychoanalytisches Gedankengut einbeziehen, u.a. wenn es darum geht, die für die Konstruktion der Geschlechtsidentität verantwortlichen Mechanismen und Strategien offenzulegen.

      1.2.5 Aufbau der Arbeit

      Die Einleitung widmet sich dem Entwicklungsverlauf von Oehlenschlägers Verhältnis zu seiner Vorlage, sowie der Rezeption seines Romans und dem Stand der Forschung. In einem buchgeschichtlich orientierten Unterkapitel wird das Zustandekommen der deutschen Erstausgabe in den brieflichen Verhandlungen mit dem Verleger CottaCotta, Johann Friedrich nachgezeichnet, auch mit Blick auf Oehlenschlägers Interesse für die Gestaltung der Erscheinungsform seines Romans. Ausserdem wird über die Entstehung der späteren Fassungen in zwei Sprachen berichtet.

      Kapitel 2 bringt eine Zusammenfassung der inhaltlichen und strukturellen Hauptzüge der Inseln im Südmeere und der Wunderlichen Fata, die verhältnismässig ausführlich gehalten ist, um gleichsam als Prämisse die wesentlichen Parallelen und Differenzen zwischen den beiden Werken aufzuzeigen und so die Grundlage für bestimmte Einzelanalysen zu schaffen. Diese folgen in ihrer Anordnung nicht der Romanchronologie, weshalb die Zusammenfassung auf einen kohärenten Handlungsüberblick angelegt ist, in den sich die Detailanalysen einordnen lassen.

      Darauf folgt in Kapitel 3 eine Annäherung an die „Zweisprachigkeit“ von Oehlenschlägers Roman, eingeleitet von allgemeinen Bemerkungen zur deutschen und dänischen Produktion des Autors; anschliessend gehe ich auf die spezifische Ausprägung dieser Produktionsweise in den IS ein, wobei ich hier schwerpunktmässig auf Übersetzungstheorien zurückgreife, die aber auch sonst die Basis weiterer Vergleiche der dänischen und deutschen Fassung bilden, welche die analysierten Passagen in den meisten Fällen abschliessen. Ein Unterkapitel behandelt Fragen der Zwei- und Mehrsprachigkeit auch auf der Figurenebene.

      Im 4. Kapitel werden exemplarisch polyphone und intertextuelle Beziehungen zwischen den beiden Romanen untersucht, teils basierend auf den vorgestellten Intertextualitätstheorien, aber auch auf Erkenntnissen aus paratextuellen und psychoanalytischen Forschungen.

      Kapitel 5 und 6 behandeln verschiedene Aspekte der Figurendarstellung in ihrer Beziehung zu literarischen und allgemein künstlerischen Phänomenen, während Kapitel 7 auf die Funktion diverser Schauplätze im Roman fokussiert, die sich im 8. Kapitel zur Hauptsache auf einen Schauplatz, nämlich die Bühne, verdichten – nach oft vertretener Ansicht die eigentliche dichterische Sphäre Oehlenschlägers, die im Roman polyvalent für Aufführungen verschiedenster Art, aber auch als imaginärer Ort für dramentheoretische Reflexionen eingesetzt wird.

      Diese unterschiedlichen Analysestrategien – gleichsam Annäherungsversuche aus verschiedenen Blickwinkeln – haben zum Ziel, den Roman auf mehreren Ebenen als Produkt und Schnittpunkt vielfältiger Textbeziehungen zu zeigen, die immer wieder bald explizit, bald in verhüllter Form reflektiert werden; dabei ergibt sich, wie die Arbeit zum Ausdruck bringen soll, eine Umakzentuierung des Prätextes, die dazu führt, dass die mehrstimmige Basis von Schnabels Werk für eine zwar ebenfalls polyphone Erzählform funktionalisiert wird, in der jedoch primär andere Textstimmen die Hauptrolle spielen: Es entsteht ein selbstreflexiver Text über Texte.

      1.3 Entstehungsprozess

      Oehlenschlägers Neuschreibung von Schnabels Wunderlichen Fata einiger Seefahrer fällt in eine Zeit, in der Schnabels Roman auch in den Kreisen gebildeter Leser wieder auf Interesse stiess, nachdem er – trotz ursprünglich grosser Beliebtheit1 – gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Misskredit geraten war, da er den Anforderungen einer von Lehrsätzen der Aufklärung geprägten Pädagogik nicht entsprach.2 Die Aufwertung der Insel Felsenburg3 hatte schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begonnen4 und lässt sich wohl – mindestens teilweise – mit der Vorliebe der Romantik5 für historische Romane, Volksbücher, Gespenstergeschichten und Märchen erklären – Gattungen, zu denen Schnabels Roman Bezüge aufweist.

      Natürlich handelt es sich bei der Insel Felsenburg nicht um einen historischen Roman im eigentlichen Sinn, schon deshalb nicht, weil der Hauptstrang des Geschehens in der Erzählgegenwart spielt, aber durch präzise zeitliche und räumliche Verankerung der erzählten Geschehnisse, die sich überdies zum Teil lange vor der Erzählgegenwart zugetragen haben, entsteht der Anschein der Historizität des Romangeschehens. Der volksbuchähnliche Charakter ergibt sich teils aus der Verbindung von Elementen des Abenteuer- und Schelmenromans mit der Robinsonadenthematik6 und der damit zusammenhängenden grossen Verbreitung des Buches,7 teils aus der Tatsache, dass die Identität des Verfassers lange Zeit im Dunkeln geblieben war.8Tieck, Ludwig Märchenhafte Züge schliesslich bestimmen immer wieder das Romangeschehen, wobei die Steigerung des Märchenhaften ins Phantastische und Gespenstische, die sich vor allem im 3. und 4. Band abspielt, auf die Romantiker eine besondere Anziehungskraft ausgeübt haben dürfte. Die Literatur früherer Zeiten bedeutete den Romantikern aber weit mehr als nur interessante Lektüre: In unterschiedlichster Weise dienten