den verschiedensten Zentren der Bewegung und Jugendliche, viele Jugendliche umdrängten ihn. »Wladimir Iljitsch, bitte ...« »Genosse Lenin, Sie dürfen nicht abschlagen ...« »Wir wissen wohl, Iljitsch, daß Sie ... aber ...« So und so ähnlich schwirrten Bitten, Anfragen, Vorschläge durcheinander.
Lenin war im Anhören und Antworten von unerschöpflicher, rührender Geduld. Er hatte ein offenes Ohr und einen guten Rat für jede Parteisorge wie für persönliche Schmerzen. Herzerquickend war die Art und Weise, wie er mit der Jugend verkehrte – kameradschaftlich, frei von jeder pedantischen Schulmeisterei, von jedem Dünkel, daß das Alter allein schon eine unübertreffliche Tugend sei. Lenin bewegte sich als gleicher unter gleichen, mit denen er durch alle Fasern seines Herzens verbunden war. Er hatte nicht die Spur eines »Herrenmenschen« an sich, seine Autorität in der Partei war die eines idealen Vaters, dessen Überlegenheit man sich in dem Bewußtsein fügt, daß er versteht und verstanden sein will. Nicht ohne Bitterkeit kam mir in der Atmosphäre um Lenin die Erinnerung an die steifleinene Grandezza der »Parteiväter« der deutschen Sozialdemokratie. Und erst recht an das geschmacklose Parvenütum, mit dem der Sozialdemokrat Ebert als »Herr Reichspräsident« der Bourgeoisie abzugucken beflissen ist, »wie sie sich räuspert und wie sie spuckt«, ein Parvenütum, das jeden Stolz auf die historische Bedeutung des Proletariats und jegliche menschliche Würde vergessen läßt. Freilich: Diese Herren waren nie so »töricht und vermessen« wie Lenin, »eine Revolution machen zu wollen«. Und unter ihrer Hut kann die Bourgeoisie in des weiland »römischen Reiches Kinderstube« einstweilen noch sicherer schnarchen als zu Heinrich Heines Zeit unter 34 Monarchen. Bis die Revolution endlich auch hier aus den Fluten des geschichtlich Vorbereiteten und Notwendigen emportaucht und dieser Gesellschaft zudonnert: »Quos ego!«
Mein erster Besuch bei der Familie Lenins vertiefte den Eindruck, den ich auf der Parteikonferenz empfangen hatte und der seither bei mehreren Besprechungen verstärkt worden war. Gewiß, Lenin wohnte im Kreml, der früheren Zarenburg, und man mußte an mancher Wache vorüber, ehe man zu ihm gelangte – eine Maßregel, die durch die damals noch nicht aufgegebenen konterrevolutionären Attentatspläne gegen die Führer der Revolution gerechtfertigt war. Lenin empfing auch, wenn es sein mußte, in prächtigen, goldstrotzenden Staatsgemächern. Jedoch seine Privatwohnung war von äußerster Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Ich bin in mehr als einer Arbeiterwohnung gewesen, die weit reicher ausgestattet war als das Heim des »allmächtigen moskowitischen Diktators«. Ich fand Frau und Schwester Lenins beim Abendbrot, das zu teilen ich sofort herzlichst eingeladen wurde. Es war einfach, wie das die Schwere der Zeit forderte: Tee, Schwarzbrot, Butter, Käse. Später mußte die Schwester »dem Gast zu Ehren« nachsehen, ob nicht etwas »Süßes« da sei, und sie entdeckte glücklich ein kleines Gläschen mit eingemachten Beeren. Es war bekannt, daß die Bauern »ihren Iljitsch« mit reichlichen Sendungen von weißem Mehl, Speck, Eiern, Obst usw. bedachten, aber man wußte auch, daß nichts davon in Lenins Haushaltung blieb. Alles wanderte in die Krankenhäuser und Kinderheime; die Familie Lenins hielt streng den Grundsatz fest, nicht besser zu leben als die anderen, das heißt die schaffenden Massen.
Genossin Krupskaja, Lenins Frau, hatte ich seit der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz zu Bern im März 1915 nicht gesehen. Ihr liebes Gesicht mit den warmen, gütigen Augen trug unverwischbare Zeichen der tückischen Krankheit, die an ihr zehrt. Aber davon abgesehen, war auch sie die gleiche geblieben, die Verkörperung der Aufrichtigkeit, der Bescheidenheit des Wesens und einer geradezu puritanischen Schlichtheit. Mit ihrem glatt zurückgekämmten Haar, am Hinterkopf in einen kunstlosen Knoten aufgesteckt, in ihrem schmucklosen Kleid konnte man sie für eine abgehetzte Arbeiterfrau halten, deren ewige Sorge ist, Zeit zu sparen, Zeit zu gewinnen. Die »erste Frau des großen russischen Reiches« – nach bürgerlicher Auffassung und Terminologie – ist unstreitig die erste an opferfreudiger Selbstvergessenheit, an Hingebung für die Sache der Mühseligen und Beladenen. Die innigste Gemeinschaft des Lebensweges und Lebenswerkes vereinigte sie mit Lenin. Unmöglich von ihm zu sprechen, ohne ihrer zu gedenken. Sie war »Lenins rechte Hand«, sein oberster und bester Sekretär, seine überzeugteste Ideengenossin, die kundigste Deuterin und Vermittlerin seiner Ansichten, ebenso unermüdlich darin, dem genialen Meister tatkräftig und mit Klugheit Freunde und Anhänger zu werben, als in seinem Sinne propagandistisch unter der Arbeiterschaft zu wirken. Daneben hatte sie ihren eigenen, persönlichen Tätigkeitskreis, dem sie sich mit ganzer Seele widmete: das Volksbildungs- und Erziehungswesen.
Die Vermutung wäre lächerlich, wäre beleidigend gewesen, daß Genossin Krupskaja im Kreml als »Lenins Frau« repräsentierte. Sie arbeitete und sorgte mit ihm, für ihn, wie sie das ein Leben lang getan hatte, auch wenn die Illegalität und die härtesten Verfolgungen sie trennten. Eine tief mütterliche Natur, machte Genossin Krupskaja – von Lenins Schwester Maria Iljinitschna dabei liebevoll unterstützt – die Wohnung zu einem »Heim« im edelsten Sinne des Wortes. Sicherlich nicht in der Bedeutung deutscher Spießbürgerlichkeit, wohl aber durch die geistige Atmosphäre, die es erfüllte und die der Ausfluß der Beziehungen war, die die hier lebenden und webenden Menschen miteinander verband. Man empfand es, in diesen Beziehungen war alles auf das Echte, auf Wahrhaftigkeit, Verstehen und Herzlichkeit gestimmt. Obgleich ich Genossin Krupskaja bis dahin nur wenig persönlich gekannt hatte, fühlte ich mich doch sofort in ihrem »Reich« und unter ihrer freundschaftlichen Fürsorge wie zu Hause. Als Lenin kam und etwas später, von der Familie aufs freudigste begrüßt, eine große Katze erschien, die dem »Schreckensführer« auf die Schulter sprang und es sich dann auf seinem Schoß bequem machte, hätte ich wirklich wähnen können, daheim zu sein oder bei Rosa Luxemburg und ihrer für die Freunde geschichtlich gewordenen Katze »Mimi«.
Lenin fand uns drei Frauen im Gespräch über Kunst, Bildungs- und Erziehungsfragen. Ich äußerte gerade meine enthusiastische Bewunderung für die einzig dastehende, titanenhafte Kulturarbeit der Bolschewiki, für das Regen und Bewegen schöpferischer Kräfte, die der Kunst und Erziehung neue Bahnen öffnen wollten. Dabei verhehlte ich nicht den empfangenen Eindruck, daß sich reichlich viel unsicheres, unklares Tasten und Experimentieren zeige und zusammen mit dem leidenschaftlichen Ringen nach neuem Inhalt, neuen Formen, neuen Wegen des Kulturlebens auch manche künstlerische, kulturelle »Modefatzkerei« nach westlichem Muster. Lenin griff sofort sehr lebhaft in das Gespräch ein.
»Das Erwachen, die Betätigung von Kräften, die Sowjetrußland eine neue Kunst und Kultur schaffen wollen«, sagte er, »ist gut, ganz gut. Das stürmische Tempo dieser Entwicklung ist begreiflich und nützlich. Wir müssen und wollen nachholen, was in Jahrhunderten versäumt worden ist. Die chaotische Gärung, das fieberhafte Suchen nach neuen Lösungen und Losungen, das ›Hosianna‹ für bestimmte Kunst- und Geistesrichtungen heute, das ›Kreuziget sie‹ morgen: all das ist unvermeidlich.
Die Revolution entfesselt alle zurückgehaltenen Kräfte und treibt sie aus der Tiefe an die Oberfläche. Um ein Beispiel herauszugreifen: Denken Sie an den Druck, der auf die Entwicklung unserer Malerei, Bildhauerkunst und Architektur durch die Moden und Launen am Zarenhofe ausgeübt wurde, ebenso durch den Geschmack, die Liebhabereien der Herren Aristokraten und Bourgeois. In einer Gesellschaft des Privateigentums produziert der Künstler Waren für den Markt, er braucht Käufer. Unsere Revolution hat den Druck dieses sehr prosaischen Standes der Dinge von den Künstlern genommen. Sie hat den Sowjetstaat zu ihrem Schützer und Auftraggeber gemacht. Jeder Künstler und jeder, der sich dafür hält, nimmt als sein gutes Recht in Anspruch, frei nach seinem Ideal zu schaffen, mag das nun etwas taugen oder nicht. Da haben Sie die Gärung, das Experimentieren, das Chaotische.
Aber natürlich, wir sind Kommunisten. Wir dürfen nicht die Hände in den Schoß legen und das Chaos gären lassen, wie es will. Wir müssen auch diese Entwicklung bewußt, klar zu leiten und ihre Ergebnisse zu formen, zu bestimmen suchen. Daran fehlt es noch, fehlt es sehr. Mir scheint es, daß auch wir unsere Dr. Karlstadt Dr. Karlstadt – Andreas Bodenstein (1480-1541), bedeutender Vertreter der Reformation, beteiligte sich führend an der Zerstörung katholischer Heiligenbilder. Die Red.haben. Wir sind viel zuviel ›Bilderstürmer‹. Man soll Schönes erhalten, zum Muster nehmen, daran anknüpfen, auch wenn es