Das ist Unsinn, nichts als Unsinn. Übrigens ist auch viel konventionelle Kunstheuchelei dabei im Spiele und der Respekt vor der Kunstmode im Westen. Selbstverständlich unbewußt. Wir sind gute Revolutionäre, aber wir fühlen uns verpflichtet zu beweisen, daß wir auf ›der Höhe zeitgenössischer Kultur‹ stehen. Ich habe den Mut, mich als ›Barbar‹ zu zeigen. Ich kann die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer Ismen nicht als höchste Offenbarungen des künstlerischen Genies preisen. Ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freude an ihnen.«
Ich konnte nicht umhin zu gestehen, auch mir fehle das Organ, um zu begreifen, daß die künstlerische Erscheinungsform einer begeisterten Seele ein Dreieck statt einer Nase sei und daß revolutionärer Tatendrang den gegliederten Körper des Menschen in einen formlosen Sack verwandle, auf zwei Stelzen gestellt und mit zwei fünfzinkigen Gabeln. Lenin lachte herzlich. »Ja, liebe Clara, es ist schon so, daß wir zwei Alte sind. Es muß uns genügen, in der Revolution einstweilen noch Junge zu bleiben und voranzugehen. Mit der neuen Kunst kommen wir nicht mehr mit, wir humpeln hinter ihr drein.
»Aber«, so fuhr Lenin fort, »wichtig ist nicht unsere Meinung über Kunst. Wichtig ist auch nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln. Dürfen wir einer Minderheit süßen, ja raffinierten Biskuit reichen, während es den Massen der Arbeiter und Bauern an Schwarzbrot fehlt? Ich meine das, was ja naheliegt, nicht nur im buchstäblichen Sinne des Wortes, sondern auch figürlich. Haben wir immer die Arbeiter und Bauern vor Augen. Lernen wir ihretwegen wirtschaften und rechnen, auch auf dem Gebiete der Kunst und Kultur.
Damit die Kunst zum Volk und das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau heben. Wie sieht es da in unserem Lande aus? Sie schwärmen von dem ungeheuren Kulturwerk, das wir seit der Machtergreifung verrichtet haben. Nun ja, ohne ruhmredig zu sein, können wir sagen, daß von uns viel in dieser Hinsicht geschehen ist, sehr viel. Wir haben nicht nur ›Köpfe abgeschnitten‹, wie uns die Menschewiki aller Länder und ihre Kautskys unterstellen, wir haben auch Köpfe erleuchtet – viele Köpfe. Allein, ›viele‹ doch nur gezählt an der Vergangenheit und den Sünden der in ihr herrschenden Klassen und Cliquen. Riesengroß steht vor uns das erwachte und von uns angestachelte Bedürfnis der Arbeiter und Bauern nach Bildung und Kultur. Nicht bloß in Petrograd und Moskau, in den Industriezentren, auch draußen, bis in die Dörfer. Und wir sind ein armes Volk, ein bettelarmes Volk! Ob wir es wollen oder nicht, die meisten Alten bleiben kulturell die Geopferten, die Enterbten. Nun gewiß, wir führen einen wirklich hartnäckigen Feldzug gegen das Analphabetentum. Wir errichten Bibliotheken und ›Lesehütten‹ in den großen und kleinen Städten und Dörfern. Wir organisieren Kurse der verschiedensten Art. Wir veranstalten gute Theatervorstellungen und Konzerte, wir senden ›Bildungszüge‹ und ›Wanderausstellungen‹ durch das Land. Aber ich wiederhole: Was ist das alles für die vielen Millionen, denen es an dem elementarsten Wissen, der primitivsten Kultur gebricht! Während in Moskau vielleicht heute Zehntausend und morgen wieder Zehntausend sich an glänzenden Aufführungen im Theater berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, daß die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, daß Naturgesetze und nicht zusammen mit dem ›himmlischen Väterchen‹ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.«
»Klagen Sie nicht so bitter über das Analphabetentum, Genosse Lenin«, warf ich dazwischen. »Es hat euch sicherlich in gewissem Maße die Revolution erleichtert. Es hat das Gehirn der Arbeiter und Bauern davor geschützt, mit bürgerlichen Begriffen und Anschauungen vollgepfropft und verseucht zu werden. Eure Propaganda und Agitation fällt auf jungfräulichen Boden. Es ist leichter, dort zu säen und zu ernten, wo nicht erst ein ganzer Urwald ausgerottet werden muß.«
Brief Clara Zetkins vom 29. August 1918 an W. I. Lenin
»Ja, das ist richtig«, erwiderte Lenin, »jedoch nur innerhalb gewisser Grenzen oder besser gesagt: für eine bestimmte Periode unseres Kampfes. Das Analphabetentum vertrug sich allenfalls mit dem Kampf um die Eroberung der Macht, mit der Notwendigkeit, den alten Staatsapparat zu zerschlagen. Aber zerstören wir denn nur um des Zerstörens willen? Wir zerstören, um Besseres aufzubauen. Das Analphabetentum verträgt sich schlecht, verträgt sich gar nicht mit den Aufgaben des Aufbaus. Er muß doch nach Marx das Werk der Arbeiter selbst sein und, so füge ich hinzu, der Bauern, wenn sie alle frei werden sollen. Unsere Sowjetordnung erleichtert das. Dank ihrer lernen jetzt Tausende aus dem werktätigen Volk in den verschiedenen Sowjets und Sowjetorganen am Aufbau arbeiten. Es sind Männer und Frauen ›in den besten Jahren‹, wie man bei euch zu sagen pflegt. Das bedeutet für uns, daß die meisten von ihnen noch unter dem alten Regime groß geworden sind, also ohne Bildung und Kultur. Leidenschaftlich streben sie jetzt danach. Wir sind auf das ernstlichste bemüht, immer neue Männer und Frauen zur Sowjetarbeit heranzuziehen und sie durch diese praktisch und theoretisch zu erziehen. Allein, trotz allem kann der Bedarf an verwaltenden, aufbauenden Kräften bei weitem nicht gedeckt werden. Wir müssen Bürokraten alten Stils verwenden, und wir bekommen einen zünftigen Bürokratismus. Ich hasse ihn herzlich. Nicht den einzelnen Bürokraten. Der kann ein tüchtiger Kerl sein. Aber ich hasse das System. Es lähmt und korrumpiert unten und oben. Der entscheidende Faktor zur Überwindung und Ausrottung des Bürokratismus ist breiteste Volksbildung und Volkserziehung.
Und welche Perspektiven haben wir für die Zukunft? Wir haben prächtige Einrichtungen geschaffen und wirklich gute Maßnahmen getroffen, damit die Jugend des Proletariats und der Bauernschaft lernen, studieren, Kultur erwerben kann. Aber auch hier tritt die peinigende Frage auf: Was ist das für so viele? Schlimmer noch! Wir haben bei weitem noch nicht genug Kindergärten, Kinderheime und Elementarschulen. Millionen Kinder wachsen ohne Erziehung, ohne Unterricht auf. Sie wachsen auf in der Unwissenheit und der Unkultur ihrer Väter und Großväter. Wie viele Talente werden dadurch abgewürgt, wie viele Sehnsucht wird dadurch zertreten. Das ist ein grausames Verbrechen gegen das Glück des heranwachsenden Geschlechts und ein Diebstahl an dem Reichtum des Sowjetstaats, der sich zur kommunistischen Gesellschaft entwickeln soll. Es ist eine schwere Gefahr für die Zukunft.«
In der für gewöhnlich so ruhigen Stimme Lenins grollte verhaltene Empörung. Wie muß ihm diese Sache am Herzen liegen, ihn hinreißen, dachte ich, daß er vor uns dreien eine Agitationsrede hält. Es fielen – ich erinnere mich nicht von wem – einige Bemerkungen, die für manche hervorstechenden Erscheinungen des Kunst- und Kulturlebens auf »mildernde Umstände« plädierten, sie aus der gegebenen Situation der Stunde erklärten. Lenin erwiderte darauf:
»Ich weiß schon! Manche sind ehrlich überzeugt, mit ›panem et circenses‹ über die Schwierigkeiten und Gefahren des Augenblicks hinwegzukommen. ›Panem‹ – jawohl! ›Circenses‹ – meinetwegen! Aber man vergesse dabei nicht, daß Zirkusspiele keine große, wahre Kunst sind, sondern mehr oder weniger schöne Unterhaltung. Man vergesse dabei nicht, daß unsere Arbeiter und Bauern kein römisches Lumpenproletariat sind. Sie werden nicht vom Staat erhalten, sie erhalten durch ihre Arbeit den Staat. Sie haben die Revolution ›gemacht‹ und ihr Werk mit beispiellosen Opfern, mit Strömen von Blut verteidigt. Unsere Arbeiter und Bauern verdienen wirklich mehr als Zirkusspiele. Sie haben ein Anrecht auf echte, große Kunst. Darum vor allem: breiteste Volksbildung und Volkserziehung. Sie schafft den Kulturboden – gesichertes Brot vorausgesetzt –, auf dem eine wirklich neue, große Kunst erwachsen wird, eine kommunistische Kunst, die ihrem Inhalt entsprechend auch die Formen gestaltet. Hier liegen ungeheure, dankbarste Aufgaben für unsere Intellektuellen vor. Sie zu verstehen und sie zu erfüllen, wäre der Zoll dafür, daß die proletarische Revolution auch ihnen weit das Tor geöffnet hat, das ins Freie führt, heraus aus dem niedrigen Zustand ihrer Lebensbedingungen, den das ›Kommunistische Manifest‹ so unübertrefflich charakterisierte.«
Wir sprachen in dieser Nacht – es war spät geworden – noch über mancherlei Fragen. Der