Siegfried Reusch

Der Zauber des Denkens


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vielmehr die Syphilis, die ihn in die Arme seiner Mutter und seiner Schwester zwang?

      Wenn es wirklich Syphilis war, dann bliebe zu hoffen, dass er sie bei seiner vielleicht einzigen körperlichen Begegnung mit einer Frau bekam. Meines Erachtens blieb ihm das aber leider verwehrt. Wohl deshalb nahm er schließlich mit einem Pferd wenigstens irgendein anderes Lebewesen in den Arm. Wichtig ist dieser symbolische Akt, mit einem Tier zu verschmelzen, was für einen Philosophen das Schrecklichste wäre. Auf der Ebene eines Tieres zu landen, wo er doch so schlau sein wollte, und dann in die entmündigte Hilfsbedürftigkeit zurückzukehren, ist eine Konsequenz der Radikalität seines Denkens.

      Die Umarmung des Pferdes ist für die Philosophie symbolisch vergleichbar mit der Kreuzigung Christi. Die Philosophie sollte einen Kult daraus entwickeln, Pferde zu umarmen.

       Hat Philosophie auch eine überindividuelle Bedeutung? Steckt in der Philosophie auch eine verändernde Potenz?

      Diese Illusion stimmt zum Glück nicht. Odo Marquard hat einmal gesagt: „Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen“. Selbst in der DDR war der Einfluss der Philosophie so gering, dass sie gesellschaftlich keinen Schaden anrichten konnte.

      Nehmen Sie zum Beispiel Sir Karl Popper. Es gab zwei wesentliche Leute, die sich auf ihn berufen haben, Alfred Herrhausen und Helmut Schmidt, aber das hatte auf ihre Politik nicht den geringsten Einfluss. Sie unterschieden sich in ihrem Handeln nicht von anderen, wie zum Beispiel Helmut Kohl oder Edzard Reuter. Das philosophische Gedankengut wurde immer nur als Rechtfertigung für ohnehin durchgeführte Politik herangezogen, wie zum Beispiel Karl Marx in der DDR oder Carl Schmitt von den Nazis. Politik wird von den Machthabern meist philosophisch begründet.

      Dass Philosophie eine Auswirkung haben sollte, war ursprünglich die Idee meiner Philosophischen Praxis. Tatsächlich aber bekam eher die Auswirkung dieser Praxis eine Philosophie.

       Wie sehen Sie denn dann die Philosophie der Aufklärung, die ja oft als Paradebeispiel der Wirkmächtigkeit von Philosophie angeführt wird?

      Ich würde sie interpretieren in der Analogie zur Entwicklung der Atomkraft. Das heißt, man wollte eine Energiequelle finden, die die Bedürfnisse der Menschen befriedigt, aber man hat das Problem der Entsorgung vergessen. Genauso war es in der Aufklärung. Man hat Kräfte freigesetzt, Denkmobilität, das Wahlrecht, und ist nachher mit dem entstandenen Potenzial nicht mehr fertig geworden. Diese Überschüsse erleben wir heute zum Beispiel in Gestalt des Überkonsums, der Naturzerstörung und des Fundamentalismus. Man müsste alternative Energien entwickeln. Diese alternative Energie besteht in der Liebe zwischen Mann und Frau. Die Eigenart der weiblichen Philosophie ist, dass sie keine Diskurse will, dass sie immer bei der Infragestellung stehen bleibt. Wenn ich nicht zwanzig Jahre die Gefühlskälte und Gemeinheit der vermeintlichen Aufklärung in Berlin am eigenen Leib erfahren hätte, würde ich heute diese These nicht vertreten. Die Fragen nach der Wahrheit oder nach der Philosophie sind nur überlagerte, hinter denen sich immer nur die Frage nach der Beziehung von Mann und Frau verbirgt. Die eigentliche Aufgabe von Philosophie müsste es sein, die fundamentale Geschlechterfrage zu thematisieren, also über die Chance von Liebe und Begegnung, von Vereinigung und Zeugung aufzuklären. Es erstaunt mich, dass gerade die sich selbst für aufgeklärt haltende Gegenwartsphilosophie diese Frage ausklammert, obwohl hier doch die unmittelbarste und persönlichste Wirkung läge.

       Denken Sie, dass die Vernunft im Leben eines Menschen eine Rolle spielt?

      Ich befürchte das oft. Immer, wenn mir Gewalt angetan wird, stelle ich fest, dass das jemand ist, der vernünftig ist. Die Menschen, die Gewalt an anderen Menschen ausüben, sind vernünftige Menschen. Vernunft ist, wenn Menschen für alles, was sie tun, rationale Begründungen finden, mit denen sie es rechtfertigen. Die Folge der Aufklärung war, dass die Sprache immer auch zur Begründung von Gewalt dienen konnte. Man muss ja bedenken, dass wir heute nur noch Kriege zur Erhaltung des Friedens und nicht mehr zur Eroberung führen. Das sind die Folgen der Aufklärung – letztlich wurde die Vernunft erst durch die Aufklärung diskreditiert, so dass meine über- und zwangsaufgeklärte Generation immer mehr Freude daran gewinnt, die Entwertung der Begriffe ironisch vorzuführen.

       Kann die akademische Philosophie nicht eine beratende Funktion einnehmen?

      Wer in der Lage wäre, Wirtschaftsführern, Arbeitslosen oder Politikern einen vernünftigen Rat – und jetzt benutze ich einmal den Sinn des Wortes – zu geben, hätte sich nicht so lange an der Universität aufhalten dürfen. Ethikkommissionen sind etwas Lächerliches. Ich war selbst in solchen und habe dann durch Fachvorträge über die Arbeitszeitverkürzung bei VW überrascht. Ich habe auch einen Begriff für die akademischen Berater gefunden: Ethisches Sandmännchen.

       Denken Sie nicht, dass es so etwas gibt wie ethische Probleme?

      Ethische Probleme? Gibt es nicht. Die Ethik ist ein riesiges Missverständnis, denn subjektiv strebt doch jeder nach Wahrheit, beziehungsweise glaubt zumindest jeder, das Richtige zu denken und zu tun. Zeigt das nicht die Sinnlosigkeit der Ethik?

       Ob jemand hilfsbereit ist oder ein KZ betreibt, in jeweils subjektiv bester Absicht, würde also objektiv auf der gleichen Stufe stehen?

      Wir sind in Deutschland, also ist die KZ-Frage erlaubt. Ich antworte also: Ja, wer bester Absicht ist, steht objektiv auf gleicher Stufe. Die Frage ist, welche Konsequenz ich daraus ziehe. Sicher ist die Anerkenntnis des subjektiven Rechthabens eine Folge der Aufklärung. Wenn ich aber jemanden überzeugen soll, nämlich das, was ich für richtiger und politisch korrekter halte, sollte ich das nicht „Ethik“ nennen, sondern „Rhetorik“. Ich überzeuge nämlich nicht dadurch, dass ich mich selbst für besser und reflektierter halte, sondern durch meine rhetorischen Fähigkeiten. Es handelt sich um eine Machtkonkurrenz: Will ich meine Inhalte durchsetzen, brauche ich vor allem Rhetorik.

       Heißt das, Hitler hätte recht gehabt, wenn er den Krieg gewonnen hätte?

      Ganz genau. Es gibt immer einen Gewinner im Wettstreit. Recht setzt letztlich, wer gewinnt. Genau das macht ja das Unternehmen „Ethik“ so aussichtslos. Traurig ist nur, dass es 1933 nicht mehr so begabte Rhetoriker gab – dann hätte Hitler bei 5 % rumgekrebst. Sechzig Jahre nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler ethisch über ihn Recht zu sprechen, ist sicher leichter, als ihn von 1923 bis 1945 rhetorisch zu überbieten.

       Haben Sie einen konkreten Vorschlag, wie man Ihre Vorstellung von Philosophie in die Tat umsetzen könnte?

      Ja, eine Denkpause für die akademische Philosophie, in der die Institute ersatzlos aufgelöst werden. Wir, die wir unter dem komischen Attribut „Philosoph“ angetreten sind, können uns dann überlegen, wie wir das auf andere Art fortführen. Es könnte eine Offenheit entstehen, in der Fragen diskutiert würden wie: Wer bin ich? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Zugegeben, diese Fragen kennen wir schon – aber eben nur als Philosophiegeschichte. Und was hat Philosophie mit dem Mann-Sein zu tun? Was wollen inzwischen die Frauen von der Philosophie? Oder gar von uns? Die Verwaltung von Texten sollte aber nicht mehr die einzig förderungsfähige Form von Liebe zur Sophia sein. Die analytischen Philosophen könnten sich um Lyrikstipendien bewerben, der Rest geht in die Geschichte und Germanistik.

       In der DDR hat man die philosophischen Institute abgewickelt, aber dort ist ja offensichtlich auch nichts Neues entstanden.

      Ja, aber was ist denn da passiert? Man hat die Institute aufgelöst und dann die westdeutschen Privatdozenten der Endlagerung zugeführt. Im Land Brandenburg hat man ein Schulfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religion“ eingeführt, für das ich philosophischer Berater war. Die Lehrer waren sehr motiviert, aber ihre Weiterbildner waren derart ethisch infiziert, dass die Lebensgestaltung und lustigerweise auch die Religion auf der Strecke blieben. Und die Schüler natürlich auch.

       Was sollen die Studenten Ihrer