Höchstleistung behindern. Eine Universität oder eine Gesellschaft, die darüber klagt, dass ihre Studenten zu lange studieren, aber nicht in der Lage ist, ein Studium so zu organisieren, dass es auch wirklich in einer angemessenen Zeit studiert werden kann, die macht eben ganz woanders Fehler.
Sie waren Mitglied der Strukturkommissionen von Sachsen und Berlin. In den neuen Bundesländern hatten Sie während der Evaluation des Wissenschaftsbetriebes in der DDR die Möglichkeit, an einer Neustrukturierung teilzunehmen. Wie sind da Ihre Erfahrungen? Wurden die Wissenschaftler zum bloßen Rädchen in der Politik, oder konnten Sie wirklich gestalten?
Zunächst einmal: Ich war immer der Meinung, dass zu einem vollen Hochschullehrerleben neben Lehre, Forschung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auch die wissenschaftliche Selbstverwaltung beziehungsweise die Wissenschaftspolitik gehört. Ich habe diese vielleicht in der Vergangenheit etwas zu exzessiv wahrgenommen. Dennoch fühle ich mich durch den schlichten Umstand, dass ich jetzt auch in solchen Bereichen tätig war, nicht von meinem eigentlichen Beruf entfremdet. Das hat auch etwas mit der Autonomie der Institution Universität zu tun, die muss man bauen, nicht beschwören.
Meine Erfahrungen in den genannten Kommissionen sind sehr gemischt. Die gute Nachricht zuerst: Ich fand, es war schon eine erstaunliche Leistung, die unser System, auch das wissenschaftliche System, in wirklich ganz kurzer Zeit vollbracht hat – in nicht mal zwei Jahren, wenn Sie die Arbeit des Wissenschaftsrates betrachten –, nämlich ein System soweit zu evaluieren und soweit zu rekonstruieren, dass dieses System ohne wirklich gravierende Brüche – ich spreche jetzt nicht von Personen – praktisch eine völlige Veränderung erfahren hat. Ob diese Veränderung in allen Teilen vernünftig war, und ob uns da genug eingefallen ist, das ist die andere Frage. Und das ist vielleicht die schlechte Nachricht. Denn im Endeffekt ist diese Veränderung dann doch so erfolgt, dass wir schlicht das uns gewohnte, also im Westen gewohnte, Universitäts- oder Wissenschaftssystem insgesamt mehr oder weniger radikal auch in den Neuen Ländern durchgesetzt haben. Wirklich Neues ist uns dabei nicht eingefallen, und das hatte natürlich auch wieder seine Gründe. Diese lagen weniger darin, dass es zu wenig institutionelle Fantasie gab. Die gab es. Sondern daran, dass das Ganze nicht nur unter einem ungeheuren Zeitdruck erfolgte, sondern auch unter einem ungeheuren finanzpolitischen Druck. Bestimmte Finanzierungsmöglichkeiten bestanden nur, wenn man sehr schnell in einer bestimmten Weise veränderte. Viel Spielraum für Experimente, neue Formen, die in unserem Finanzierungssystem von Wissenschaftlern und Universitäten nicht üblich waren, gab es nicht. Und insofern ist erklärbar – und in diesem Fall auch den Beteiligten nicht vorwerfbar –, dass dabei nicht große Neuerungen herausgekommen sind. Immerhin – ein bisschen mehr, als man tatsächlich zustandegebracht hat, hätte man vielleicht zustandebringen können. Die Kommissionen, die nach dem Wissenschaftsrat tätig waren – das waren die Hochschulstrukturkommissionen der Länder, in denen ich in Sachsen und in Berlin mitgewirkt habe –, hatten noch einmal die Chance, intern auf Länderebene die Dinge etwas anders anzupacken. Sie haben sie auch in der Form genutzt, dass eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht wurde – auch institutionelle Vorschläge –, die es verdient hätten, als wirklich neue und Reformelemente betrachtet zu werden. Dass diese nicht oder jedenfalls zu größeren Teilen nicht realisiert wurden – nun gut, das lag nicht in der Hand dieser Kommissionen. In dem Augenblick, als wir eine Chance gehabt hätten, dass zum Beispiel in Berlin ein paar Dinge anders hätten realisiert werden können, kam der finanzielle Einbruch. Das war kein böser Wille, auch nicht auf Seiten der Politik oder der Verwaltung. Jede Reform kostet Geld, Reformen zum Nulltarif gibt es nicht.
Wie stehen Sie zu dem Vorwurf, dass die Professoren der alten Bundesrepublik lediglich ihre Privatdozenten in den Neuen Ländern entsorgt hätten?
Ha! Also so pauschal gilt das nicht; aber es gibt natürlich Bereiche, in denen das der Fall war.
Welche Rolle spielten bei Personalfragen ideologische Kriterien im Gegensatz zu fachlichen? Es gibt ja durchaus auch marxistische Professoren in Westdeutschland.
Ja ja, das waren auch ein paar Dinge, die mich wahnsinnig geärgert haben. Also, zunächst einmal glaube ich sagen zu können, jedenfalls für den Bereich des Wissenschaftsrats, dass ideologische Dinge keine Rolle gespielt haben. Gleichwohl haben auch Ideologien in diesem ganzen Prozess gegriffen. Etwa die, dass man sich einfach nicht vorstellen konnte, dass es auch Teile der Philosophie der DDR unter Qualitäts- und anderen Gesichtspunkten wohl verdient hätten, in das gemeinsame System aufgenommen zu werden. Der antimarxistische Besen hat da kräftig gekehrt – und das ist schlimm gewesen. Allerdings waren das vor allem die Neuen Länder selbst, die da gekehrt haben, das darf man nicht vergessen. Diese Form der Reinigung setzte überhaupt erst ein, als das Evaluationsgeschäft, sofern es vom Wissenschaftsrat betrieben wurde, beendet war. Und da waren es eben in den Neuen Ländern sehr häufig gerade die Wendehälse, die mit Feuer und Schwert durch die Universitäten gegangen sind, nicht die Westler. Die Westler haben sehr früh bemerkt, dass oft auch sehr gemischte Verhältnisse herrschten. Die Vorstellung, es ist alles im Argen, das Niveau ist im Keller, die Ideologie ist entsetzlich, war häufig unbegründet; wer in dieser Weise, mit dieser Vorstellung rübergegangen ist, wurde schnell eines Besseren belehrt. Nein nein, es waren, wenn man so sagen will, die eigenen Leute, die hier und dort am grässlichsten gewütet haben. Und das ist ein Kapitel der Vereinigung, das erst noch richtig geschrieben werden muss.
ALEXANDER DILL
Philosophie oder die Liebe zu einer nicht vorhandenen Frau
Wir haben uns hier in Teisendorf getroffen, um über das zu reden, was Philosophie ist. Drei Studenten und ein Philosoph der Praxis; das macht doch schon sehr den Eindruck des platonischen Dialogs. Dill als Sokrates? Ist Ihre Philosophie die des Sokrates?
Hoffentlich nicht! Ich bin erstens der Überzeugung, dass Sokrates als Verderber der Jugend zu Recht hingerichtet wurde, und weiterhin bin ich davon überzeugt, dass der sogenannte sokratische Dialog nicht im entferntesten ein Dialog ist. Außer ein paar Universitätsdozenten sagt niemand, dass es sich hier um echte Dialoge handelt. Jedes Boris-Becker-Interview ist dialogischer als ein sokratischer Dialog. Wenn unser Dialog hier so werden sollte, dann kann ich mich gleich in den Universitäten begraben.
Welche Kriterien muss ein echter Dialog erfüllen? Wollen Sie Sokrates noch überbieten?
Höchstens in der paradoxen Intervention, die Sokrates und insbesondere Aristoteles mit seinem Satz des ausgeschlossenen Dritten verhindern. In der Tat kann eine paradoxe Intervention als Überbietung genauso heilsam sein wie eine Verhinderung des kleinlichen Argumentierens – intelligenter ist sie sicher. Dialog ist für mich Unberechenbarkeit, Unvorhersehbarkeit, Spontaneität, Provokation, Widerspruch, Paradoxie.
Inwieweit geht es im dillschen Dialog noch um Wahrheit? Ist Philosophie für Sie Habermas oder Diskursethik plus Polemik?
Um Wahrheit geht es nur in einer einzigen Form – in ihrer Infragestellung! Ansonsten ist Wahrheit uninteressant. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Wahrheit inzwischen als „Gültigkeit“ und „Plausibilität“ verkleidet, weshalb ich befürchte, dass Herr Habermas und Herr Apel an ihrer Infragestellung in dieser Verkleidung nicht interessiert sind. Deshalb führen sie auch keine Dialoge im Geist der vorhin beschriebenen Risiken. Man muss den Mut haben, im Dialog Wahrheit verlieren zu können.
Heißt das nun wiederum nicht, die Wahrheit um einer besseren Wahrheit willen in Frage zu stellen?
Wahrheit ist immer schlecht, es gibt keine gute Wahrheit. Wahrheit ist etwas Totes, etwas Statisches und Gewalttätiges, Gemeines und Hinterhältiges.
Aber erheben diese Aussagen ihrerseits nicht auch wieder einen Wahrheitsanspruch?
Natürlich, aber für mich sind Widersprüche kein Problem; zu einem echten Dialog gehören Paradoxien. Man muss den Mut haben, den unseligen Satz