Siegfried Reusch

Der Zauber des Denkens


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charakterisiert. Der Zauber des Denkens liegt allerdings weniger in der Hoffnung auf Erlösung von der Sehnsucht nach eindeutigen Wahrheiten begründet – sei es durch das Auffinden der einen Welterklärung, sei es durch die letztgültige Einsicht, eine solche nie finden zu können –, als vielmehr darin, dass viele Weltsichten nebeneinander bestehen und sich mitunter auch ergänzen können. Anders ausgedrückt: Der Zauber des Denkens ist dessen welterschließendes kommunikatives Potenzial.

      Ungefragt und unversehens in die Welt geworfen, ist der Mensch immer schon auf den Anderen verwiesen, kann er sich seiner selbst und seiner Weltbezüge nur vermittels der tätigen Auseinandersetzung mit dem Anderen vergewissern. Er ist zoon politicon, ein in Gemeinschaft lebendes Tier, wie Aristoteles es ausdrückt, nicht weil er in Gemeinschaften lebt, wie dies auch viele Tiere tun, sondern weil er sich beständig mit anderen über sich, sein Denken und seine Interpretation von Welt auseinandersetzt. Mithin ist menschliches Sein immer ein „Mit-Sein“. Der Mensch ist nicht da ganz Mensch, wo er spielt, wie Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen betont, sondern vor allem da, wo er kommuniziert. Den Menschen ist es versagt, sich nicht danach zu fragen, was all das bedeutet, was sie mit ihren Sinnen wahrnehmen, was sie sehen, schmecken, riechen, hören, fühlen, kurz, all das, was ihnen begegnet und widerfährt. Um all dies zur Sprache und somit in einen lebbaren Zusammenhang zu bringen, sind wir gezwungen, uns denkend, sprechend und seit der Erfindung der Schrift auch schreibend und lesend mit dem Gegenüber auseinanderzusetzen. Das heißt, menschliches Leben vollzieht sich immer im Raum kommunikativer Bedeutsamkeit. Vor allem im offenen Gespräch entsteht ein Raum des Zwischen, in dem Ich und Du in der Weise der Vernunft zueinander ins Verhältnis treten können, um sich eine mit anderen teilbare Wirklichkeit aufzubauen.

      Das philosophische Gespräch, sei es mit einem Gegenüber, sei es durch welches Medium auch immer vermittelt, ist nicht „poiesis“, das heißt nicht auf das Herstellen zielendes, regelgeleitetes Handeln, sondern „praxis“ im ursprünglichen Wortsinn: Es ist die gemeinsame tätige Aneignung von Welt, der aufschließende Umgang, die Interpretation des je eigenen Weltverhältnisses, das immer auch durch den Leib und den Anderen bestimmt ist. Nicht zuletzt Hannah Arendt hat in diesem Zusammenhang auf die Gleichberechtigung und gegenseitige Verwiesenheit von theoretischer (vita contemplativa) und tätiger Lebensform (vita activa) hingewiesen. Denn bewähren kann sich das Denken nur im Tun – und das miteinander Sprechen ist die vornehmste, gewinnbringendste und letztlich auch menschlichste Form des Tuns. Entsprechend ist die philosophische Auseinandersetzung keine Reaktion auf den Verlust lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten – kein Krisensymptom –, sondern urspünglichste und ureigenste Form des Menschseins: Als Menschen sind wir immer schon im Gespräch.

      Die Einsicht, im Philosophieren keine letztgültigen Wahrheiten generieren zu können, degradiert die Philosophie jedoch keineswegs zur Unterhaltung oder zur bloßen Irritationswissenschaft. Im Gegenteil! Sind Wahrheit und Ideologie doch untrennbare siamesische Zwillinge. Zur Ideologie wird Denken immer dort, wo vermeintliche denkerische und/oder naturwissenschaftliche Selbstverständlichkeiten nicht mehr in Frage gestellt werden dürfen, wo ein offenes Gespräch nicht mehr möglich ist. So kann man zum Beispiel entgegen der berechtigten und wohlbegründeten Überzeugung von Jürgen Mittelstraß nicht nur mit Recht bezweifeln, dass „die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen“, sondern muss es sogar beständig bezweifeln! Denn da, wo totale Übereinstimmung der Meinungen besteht, herrscht nur mehr Stillstand. Die moderne Spannung zwischen Sollen und Sein lässt sich nur durch das Gespräch ertragen – auflösen lässt sie sich nicht.

      Mit Bedacht wurden für den vorliegenden Band nicht nur Interviews mit Berufsphilosophen geführt, sondern auch mit Menschen, deren Denken sich nicht nur aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Philosophie speist. Wenn Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel lehrt, dann sind die hier abgedruckten Gespräche philosophische Zeitzeugnisse im besten Sinne des Wortes: Zeugnisse der denkenden Auseinandersetzung mit sich, dem Anderen und der Welt.

       KAPITEL 1

      Wozu Philosophie?

       Peter Sloterdijk

       Philosophie als Zivilisationspädagogik

       Jürgen Mittelstraß

       Wer will bezweifeln, dass die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen?

       Alexander Dill

       Philosophie oder die Liebe

       zu einer nicht vorhandenen Frau

      PETER SLOTERDIJK

      Philosophie als Zivilisationspädagogik

       Herr Sloterdijk, Sie zählen zu den wenigen Philosophen, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Worauf führen Sie Ihren Erfolg zurück?

      Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube an den Erfolg oder seinen Anschein nur widerwillig oder, wenn Sie wollen, gar nicht. Die kulturelle Konstellation ist nicht mehr so, dass eine literarische oder eine philosophische Stimme, die unverkennbar hochkulturell gefärbt ist, in der heutigen Medien- und Kulturlandschaft wirklich erfolgreich sein kann. Im heutigen Milieu hat das Auseinanderdriften der populärkulturellen und hochkulturellen Felder ein solches Maß an Entfremdung zwischen den Bereichen hervorgerufen, dass es Grenzgänger kaum noch geben kann. Ja, dass überhaupt noch eine Art Verkehr stattfindet, ist schon das Erstaunliche, und das liefert wohl die Begründung für das, was Sie meinen Erfolg nennen. Aber sehen wir die Dinge aus der Nähe an: Wenn man von einem philosophischen Buch knapp 40 000 Exemplare verkauft, wie es zum Beispiel bei meinem vorletzten Buch Zorn und Zeit der Fall war, ist es zwar nach den Kriterien des Metiers ein ziemlich gutes Ergebnis. Aber in den Kategorien der Massenkultur gesprochen ist so eine Zahl nur die Umschreibung für Nicht-Inexistenz. Das ist der Punkt.

      Mein Freund Boris Groys hat mir mal eine Geschichte von einem seiner russischen Bekannten erzählt, der nach einem ersten Besuch in New York entsetzt und begeistert zurückkam. Was er dort erlebt hatte war der Kulturschock, der einem Gebildeten alten Schlages in einer echten Marktgesellschaft bevorsteht. In Moskau, so der Russe, wäre ein Intellektueller, der es sich in einer Konversation hätte anmerken lassen, dass er zum Beispiel den Namen von Albert Camus noch nicht gehört habe, für immer blamiert gewesen. Ganz anders in New York – wenn dort jemand Camus nicht kennt, dann heißt es einfach: Camus hat es nicht geschafft.

      Diese Geschichte macht klar, worum es heute geht. Aus unserer Sphäre kann es heute absolut niemand mehr schaffen. Zumindest nicht in dem Sinne, wie es vor 50 Jahren noch einige Autoren vorgemacht hatten. Damals allerdings war die Auskristallisierung der Massenkultur noch nicht so weit vorangeschritten. Figuren wie der eben genannte Camus, aber mehr noch Jean-Paul Sartre, waren richtige Global Players. Kurzum, ich zögere, meine gelegentlichen grenzgängerischen Evasionen auf die andere Seite mit Erfolgen zu verwechseln.

       Was bedeutet Ihnen als Schriftsteller das Etikett Philosophie? Wofür steht der Begriff Philosophie eigentlich?

      Philosophie ist von außen gesehen eine relativ klar definierte Angelegenheit.

      Es ist einfach das, was Philosophen tun. Und Philosophen sind die Leute, die in den philosophischen Fakultäten situiert sind. Das ist die Minimaldefinition von Philosophie, die sich aus der pragmatischen Sicht ergibt. Sie ist begreiflicherweise völlig selbstbezüglich und tautologisch. Daneben gibt es gottlob noch immer den berühmten „Weltbegriff“ der Philosophie, hinter dem übrigens – und das hat Immanuel Kant nicht erwähnt – ein noch anspruchsvollerer Überbegriff steht, der ethische Begriff der Philosophie. Nach dem ist Philosophie als Lebensform zu verstehen, gleichsam als eine Ordensregel. Der Philosoph ist –