Lucas Fischer

Tigerherz


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      #1DAS OPENAIR

      14. August 2010

      Endlich.

      Endlich auch einmal mit dabei sein an einem Openair: Musik, Freunde, Sommerluft, unbeschwertes Zusammensein – die Turngeräte, die Halle, die nächsten Wettkämpfe, all das soll für einen Sommerabend lang kein Thema sein. Dieses Wochenende will Lucas Fischer ganz einfach Lucii sein. Will den Bands zuhören, Steffe la Chef, Peaches, Kruder und Dorfmeister, Young Gods.

      Das «Heitere Openair» in Zofingen wird Lucas Fischers allererster Openairbesuch werden, und das obwohl er bereits 20 ist. Freizeit kennt denn der talentierte Turner kaum, zwei-, manchmal dreimal pro Tag verbringt er mehrere Stunden in der Turnhalle, absolviert sein strenges Training: Boden, Pauschenpferd, Ringe, Sprung, Barren, Reck – auch samstags, insgesamt 30 Stunden pro Woche. Daneben besucht er eine kaufmännische Schule und absolviert Berufspraktika. Unter der Woche lebt und trainiert Lucas Fischer in Magglingen oberhalb von Biel, dorthin schafft es nur eine kleine Elite, die besten Turner des Landes. Seit Februar trainiert er im Nationalkader und ist nur noch für jeweils ein verkürztes Wochenende zu Hause bei der Familie und Freunden im Aargau.

      Doch dieses Wochenende bleibt für einmal mehr Zeit, ausnahmsweise haben die Nationalturner am Samstag frei. Lucas ist vorzeitig zurück im Elternhaus in Möriken. Der Zeitplan passt, um sich den Freunden anzuschliessen. Die Sachen für das Openair hat er bereits gepackt, Lucas duscht, singt dabei, kann es kaum erwarten. Bald wird er den Bus nehmen, seine Freunde sind bereits seit gestern auf dem Festivalgelände. Nur noch abtrocknen, zurück ins Zimmer, fünf Schritte durch den Gang.

      Fünf Schritte.

      An keinen wird sich Lucas erinnern können.

      Fünf Schritte, sie sind die Zäsur. Das alte Leben, der gesunde Lucas, war vorher.

      Fünf Schritte, ein Gewitter im Kopf: Lucas schlägt jäh auf dem harten Zimmerboden auf. Sein ganzer Körper krampft, zuckt, aus dem Mund tritt Schaum. Drei Minuten, drei dramatische Minuten lang.

      Er ist weg.

      Weit weg.

      Lucii, ruft die Mutter, als sie vom oberen Stock einen lauten Knall hört.

      Lucii? Einmal, zweimal.

      Lucii, ist alles in Ordnung?!

      Einen Stock höher hat Lucas Fischer, die grosse Hoffnung des Schweizerischen Turnverbands, das sogenannte «Jahrhunderttalent», einen epileptischen Anfall. Er, der schon mit 15 an den U18-Europameisterschaften teilnahm, er, der 2007 bei den Junioren fünf Schweizermeistertitel gewann und ein Jahr darauf am Barren Schweizermeister bei der Elite wurde und Vizeschweizermeister am Reck. Er, der früh schon bei den Älteren mitturnte, er, der schon früh von den Medien entdeckt wurde, liegt nun am Boden. Krampft, beisst sich ein kleines Stück seiner Zunge ab.

      Von nun an würde er ein anderer sein.

      Ich lag am Boden und hatte keine Ahnung, dass ich eine Weile ohne Bewusstsein gewesen war. Ich sah meine Mutter an und dachte erst, ihr sei etwas passiert. Ihr Blick war verstört, sie sah verängstigt aus. Ich wollte aufstehen, aber meine Mutter drückte mich wieder aufs Kissen, das sie mir während dem Anfall untergeschoben hatte. Noch einmal versuchte ich es und wieder drückte sie mich zurück. Ich begriff einfach nicht, warum. Ich wollte doch ans Openair. Zum ersten Mal im Leben an ein Openair! Ich hatte mich so darauf gefreut. Ich kannte so was ja gar nicht. Es gab so viele Dinge, die ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekannt hatte. Mein Leben bestand bisher vor allem aus Turnen. Ich erlebte ganz vieles nicht, was «normale» Menschen halt so in der Freizeit machen. Umso mehr freute ich mich aufs «Heitere Openair». Und jetzt standen da plötzlich diese Sanitäter im Zimmer.

      Ich verstand die Welt nicht mehr.

      Komisch, denkt die Mutter nach dem dritten Rufen. Schnell ist sie oben, in Lucas’ Zimmer. Und erschrickt. Ihr Sohn, eben noch heiter und aufgedreht, liegt verkrümmt am Boden, reagiert nicht auf sie. Die gelernte Betreuungsfachfrau realisiert schnell, dass Lucas einen epileptischen Anfall hat. Sie schaut, dass er sich im Krampf nirgends verletzen kann, bringt ihn in die Seitenlage, falls er erbrechen muss. Sie überwacht ihn, hat Angst, dass er sich seine Zunge zerbeissen könnte – so sehr krampfen sein Gesicht und sein ganzer Körper. Gefühlte zehn Minuten lang kommt ihr der Anfall vor, tatsächlich aber waren es gegen drei. Sie ruft die Ambulanz und telefoniert mit ihrem Mann, Peter. Er ist gerade am Einkaufen im Nachbarort. So schnell er kann, eilt er nach Hause und trifft dort zusammen mit der Ambulanz ein. Lucas ist jetzt wieder ansprechbar, wenn auch verwirrt. Die Eltern, Brigitte und Peter, sind erleichtert, ist der Anfall vorbei und ihr Sohn wieder bei Bewusstsein. Ans Turnen und was das alles bedeuten könnte, denken die beiden zu diesem Zeitpunkt – wenn auch beide selber Turner und Trainer – nicht. Vor ihnen liegt nicht Lucas Fischer, der Nationalturner. Vor ihnen liegt Lucii, der Sohn, um dessen Gesundheit sie bangen. Der, so wirkt es auf sie, noch gar nicht realisiert hat, was soeben passiert ist.

      Da standen also diese Sanitäter um mich herum. Das machte mir Angst, gleichzeitig wurde ich auch wütend. Ich wollte nicht, dass man mich als Kranken behandelt. Im Kopf war ich noch der, der sich gesund und fröhlich bereit machte für den Openairbesuch! Und doch merkte ich: Irgendwas ist passiert, sonst wären diese Sanitäter ja nicht hier.

      «Was ist los?

      Was ist denn los mit mir?»

      Schon während meinen Fragen kamen mir die Tränen. Ich verstand die Antwort nicht, aber ich fühlte, wie eine Welt zusammenbrach. Einordnen konnte ich das Gefühl noch nicht, mein Verstand war ja noch nicht richtig klar, aber ich spürte, irgendwie ist jetzt alles anders. Es war ein Gefühl der Ungewissheit, der Verlorenheit, verloren in mir.

      «Was hat das alles zu bedeuten?

      Wie geht es nun weiter?»

      Im Innersten realisierte ich, dass etwas Heftiges passiert war, aber an das Turnen dachte ich noch nicht. Es war alles irgendwie verschwommen. Ich bekam zwar Antworten auf meine Fragen, aber ich verstand sie nicht.

      Ruhig verrichten die Sanitäter ihre Arbeit, stellen Fragen, kontrollieren seine Atmung, den Puls, den Blutdruck. Routine. Es ist keine lebensbedrohende Situation, aber bei einem ersten epileptischen Anfall müssen im Spital weitere Abklärungen gemacht werden. Während noch einige Fragen mit den Eltern geklärt werden und der Transport vorbereitet wird, beginnt Lucas seinen Körper wieder zu spüren. Die Muskeln schmerzen wegen der starken Krämpfe. Lucas probiert die Hand zu bewegen, formt eine Faust und da dreht es ihm in einem weiteren Muskelkrampf den ganzen Arm nach hinten, Nachwehen des epileptischen Anfalls. Lucas erschrickt. Sein Körper, auf den er als Kunstturner zählen muss, dem er vertrauen muss, diesen Körper hat er offensichtlich nicht mehr im Griff. Die Muskeln agieren selbstständig, ohne dass der Spitzensportler weiss, wie ihm geschieht. Auch spürt er nun seine Zunge, sie fühlt sich dick an, geschwollen. Er biss sich mehrmals auf die Zunge, während die Kiefermuskeln krampften.

      Die Sanitäter tragen ihn auf der Bahre aus dem Haus und bringen ihn im Krankenwagen in das Kantonsspital Aarau, in den Notfall. Es muss ausgeschlossen werden, dass nicht zum Beispiel ein Hirntumor oder Medikamente den Anfall auslösten. Lucas wird Blut genommen, es werden Aufnahmen seines Gehirns gemacht und ein EEG, um die elektrische Aktivität im Gehirn zu messen. Lucas lässt geschehen, weiss nicht, was noch alles auf ihn zukommen wird.

      Noch am gleichen Tag kann Lucas wieder nach Hause. Seine Freunde sind am Openair, fragen sich, warum Lucii nicht kommt, er sei doch so Feuer und Flamme gewesen. Vor wenigen Stunden erst stand er noch unter der Dusche und freute sich, all die Bands unter freiem Himmel zu sehen. Jetzt sitzt er zu Hause, ratlos, mit vielen Fragen – und einer vorläufigen Diagnose.

      Nach all den Tests im Spital sagten sie mir, ja, das sei tatsächlich ein epileptischer Anfall gewesen. Ich wusste gar nicht, was das ist. Ich hatte bisher nicht einmal den Namen gehört. Man sagte mir im Spital, etwas im Hirn löse das aus. Jetzt müsse man halt schauen, ob das eine einmalige Sache gewesen sei. Man könne eben auch bloss einen einzigen Anfall haben. Nur zehn Prozent der Menschen, die einmal einen epileptischen Anfall haben, werden wirklich zu Epileptikern mit weiteren Anfällen. Man erklärte mir, wenn ich noch einen