Elke Schwab

Kullmann unter Tage


Скачать книгу

      »Mein Name ist Jürgen Schnur, ich bin Kriminalhauptkommissar und leite die Ermittlungen in diesem Fall«, sagte er zur Begrüßung. »Wer glaubt, etwas Hilfreiches beitragen zu können, soll sich an mich wenden.«

      »Das ist kein Kriminalfall, sondern ein Unfall«, erklärte ein großer kräftiger Mann, dessen Gesicht rot schimmerte. »Und außerdem ist dafür das Bergamt zuständig und nicht die Kriminalpolizei.«

      »Und wer sind Sie?«

      »Georg Remmark – genannt Schorsch.«

      »Gut! Und welchen Beruf üben Sie aus?«

      Verdutzt starrte Remmark auf Schnur, bevor er antwortete: »Ich bin Steiger, hier in der Grube. Schon seit zehn Jahren.«

      »Schön! Als Steiger in der Grube können Sie wohl schwerlich ein Verbrechen von einem Unfall unterscheiden. Überlassen die die Polizeiarbeit also der Polizei.«

      »Einverstanden. Dann gehen Sie auch dorthin, wo Sie gebraucht werden. Hier jedenfalls nicht.«

      »Die Entscheidung liegt sicher nicht bei Ihnen. Also beantworten Sie einfach meine Fragen, umso schneller sind wir hier fertig«, beharrte Schnur, wobei er seinen Ärger über diesen überheblichen Mann unterdrückte. »Was bringt Sie darauf, dass hier ein Unfall vorliegt? Nach meinen Erkenntnissen ist es unmöglich, einfach so an einem Stahlseil festzuhängen, ohne dass fremde Hilfe dazu nötig wäre.«

      »Pitt ging es den ganzen Morgen schon schlecht«, erklärte Remmark hastig.

      »Wer ist Pitt?«

      »Peter Dempler. Der Mann, der verunglückt ist.«

      »Wie sind Sie so schnell auf ihn gekommen?«

      »Er ist der Einzige, der fehlt. Und er war es auch, der mir heute Morgen schon Sorgen gemacht hat, weil es ihm nicht gut ging«, erklärte Remmark nun sachlicher. »Er hat sich alleine von der sechsten Sohle auf den Weg zum Schacht gemacht und wollte ausfahren. Mit dem Förderband über die fünfte Sohle zum Warndtschacht zu gelangen war zu der Zeit nicht möglich, weil die Bänder stillstanden. Zwischen den Schichten hält sich normalerweise kein Anschläger auf der sechsten Sohle am Schacht auf. Vielleicht hat er versucht, über die Fahrten hoch zur fünften Sohle zu gelangen …«

      »Fahrten?«

      »… Leiter soll das heißen«, murrte Remmark. »Jedenfalls würde ich ihm das zutrauen. Möglich, dass er abgestürzt ist und versucht hat, sich am Seil festzuhalten. Dabei hat er das Bewusstsein verloren.«

      »Verlieren Bergleute häufiger das Bewusstsein während der Arbeit?«

      »Nein! Was soll diese Frage?«

      »Sie stellen hier die abenteuerliche Theorie vom bewusstlosen Bergmann auf«, erwiderte Schnur. »Das klingt sehr verwegen.«

      »Pitt war in letzter Zeit häufiger krank«, fuhr Remmark fort. »Aber er wollte keinen gelben Schein machen, weil das mehr Arbeit für die Kameraden bedeutet.«

      »Ich werde mich von den Fakten überzeugen lassen, die die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin herausfinden werden«, stellte Schnur klar. »Die Annahme, dass der Kollege krank war, reicht nicht, um dort oben zermalmt zwischen Stahlseil und Seilscheibe zu landen.«

      Plötzlich entstand Unruhe in der Menschenmenge. Alle starrten in eine Richtung. Neugierig trat Schnur zur Seite, um sehen zu können, was diese Männer so aufbrachte.

      Ihre roten Haare leuchteten unwirklich an diesem grauen Ort. Mit ihrem eleganten Gang in den hohen Schuhen, in denen sie sich trotz des unwegsamen Geländes mit einer bemerkenswerten Sicherheit bewegte, zog sie die Blicke der Bergmänner an. Mit einem Lächeln auf den Lippen, das zeigte, dass sie solche Blicke gewohnt war, stellte sie sich vor die vielen Menschen und sagte: »Mein Name ist Ann-Kathrin Reichert, ich bin die zuständige Staatsanwältin.«

      »Warum kommt nicht das Bergamt?«, fragte Remmark.

      »Weil die Kollegen vom Ministerium für Wirtschaft und Wissenschaft mich angerufen haben, um dem Bergamt Amtshilfe zu leisten«, stellte die Staatsanwältin klar.

      Damit musste sich Remmark zufriedengeben.

      »Gut, dass wir das geklärt haben. Ich bin hier, um mir zusammen mit Kriminalhauptkommissar Schnur ein Bild von dem Fall zu machen, damit wir entscheiden können, wie wir diesen Todesfall behandeln«, sprach sie weiter.

      »Wie wollen Sie das beurteilen?«, meinte Remmark. »Sie wissen überhaupt nichts über die Arbeit unter Tage!«

      »Sie glauben gar nicht, zu was ich fähig bin«, gab Ann-Kathrin eisig zurück.

      Totenstille kehrte ein.

      Schnur freute sich über diese Eröffnung.

      »Dann wollen wir mal!« Mit diesen Worten wandte sich die Staatsanwältin an Schnur.

      »Der Tote wurde schon abtransportiert«, sagte der Kriminalist.

      »Das ging aber schnell! Wie soll ich jetzt sehen, was passiert ist?«

      Ein Blick auf die schwere Hubarbeitsbühne verriet, dass das große Gerät bereits abfahrbereit war.

      »Nach oben wirst du auch nicht mehr kommen«, stellte Schnur fest. Er zeigte auf den höchsten Punkt des Förderturms, von dem sie den Toten geborgen hatten.

      »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als diesen Teil der Tatortbesichtigung zu überspringen.« Ann-Kathrin zuckte mit den Schultern. »Mit dem zuständigen Bergamt habe ich alle Einzelheiten geklärt. Sie haben mir zugesagt, dass ich mit dem verantwortlichen Steiger runterfahren kann, um mir den Tatort unter Tage anzusehen.«

      »Der ist davon überzeugt, dass es ein Unfall ist«, brummte Schnur. »Und er wird auch versuchen, dir das einzureden.«

      »Ich kann mir schon selbst eine Meinung bilden.« Ann-Kathrin grinste verschmitzt.

      »Auf keinen Fall lasse ich dich allein da runter. Ich werde dich begleiten«, ereiferte sich Schnur.

      »Mein Beschützer«, schnurrte Ann-Kathrin. »Ich hatte ohnehin vor, dich mitzunehmen. Denn zufällig ist es auch deine Aufgabe, dir diesen Ort anzuschauen.«

      Schnur spürte, dass er rot wurde, und blickte verlegen zu Boden, in der Hoffnung, dass es niemand bemerkte. Doch Ann-Kathrin stieß ihr kehliges Lachen aus, womit es ihr wieder gelang, sämtliche Blicke auf sich zu ziehen.

      »Ich bin der zuständige Steiger.« Mit diesen Worten trat Georg Remmark vor die Staatsanwältin.

      Schnur erschrak. Hatten sie so laut geredet, dass sie jeder verstehen konnte? Das behagte ihm nicht. Hinzu kam die Aussicht auf eine Fahrt in tausend Meter Tiefe, die bei ihm sofort Beklemmung auslöste. Aber das wollte er auf keinen Fall zugeben.

      »Okay! Wie kommen wir in den Hades?«, fragte er.

      »Hades?«, hakte Remmark nach.

      »In die Grube meinte ich«, korrigierte Schnur schnell. »Soweit ich weiß, ist dieser Schacht in Velsen für die Spurensicherung gesperrt. Und wie lange unsere Leute dort arbeiten müssen, kann ich jetzt noch nicht sagen. Das könnte länger dauern.«

      »Hier wären wir ohnehin nicht runtergefahren«, stellte der Steiger brummig klar. »Sie müssen die richtige Ausrüstung bekommen. So dürfen Sie nicht in die Grube. Dafür müssen wir zum Warndtschacht fahren, weil dort alles ist, was wir brauchen. Von dort fahren wir runter.«

      »Sind dort die Kleiderkörbe der Bergleute?«, fragte die Staatsanwältin.

      »Ja«, brummte Remmark. »Dort ist die Waschkaue.«

      An Schnur gerichtet sagte Ann-Kathrin: »Du solltest einen Beamten der Spurensicherung zum Warndt schicken, damit er den Kleiderkorb des Opfers sichert.«

      »Jeder hat zwei Körbe«, berichtigte Remmark.

      »Warum das denn?«, fragte Schnur.

      »Na, einen für die dreckige Bergmannskluft