Elke Schwab

Kullmann unter Tage


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      Am Warndtschacht wurden Ann-Kathrin Reichert und Jürgen Schnur mit Steigeranzug, Grubenhelm, Schutzbrille, Lampe, Filterselbstretter und Staubmaske ausgerüstet, bevor sie den Förderkorb ansteuerten. Mit zwölf Metern pro Sekunde ging es hinab zur fünften Sohle. Am Füllort angekommen öffnete Remmark die Schachttüren und ließ dem Kommissar und der Staatsanwältin den Vortritt.

      Keine stickige Enge oder finstere Höhle erwartete die beiden dort. Sie sahen hohe, halbrunde Gänge voller Licht, Lärm und Bewegung. Gebogene Stahlträger verbunden mit Stahlgitternetzen über ihren Köpfen stützten die Hohlräume ab. Durch die Gitter war grobes Gestein zu sehen, das aussah, als wollte es jeden Augenblick die Halterung sprengen und auf sie herabstürzen.

      Sie stiegen eine stählerne Treppe hinunter und betraten eine Plattform, auf der sich einige Männer laut schreiend verständigten. Weiterer Lärm kam von Maschinen, die die Besucher nicht sehen konnten. Rohre mit unterschiedlichen Durchmessern verliefen quer am halbrunden Gewölbe über ihnen. Darauf standen schwarze, mit Wasser gefüllte Plastikwannen in der Größe von Wäschekörben, auf die Ann-Kathrin fragend wies. Remmark brummte etwas von Explosionsschutz, ohne sein Tempo zu verringern. In den Betonboden waren Schienen eingelassen, auf die sie achten mussten, um nicht zu stolpern. Einige Meter weiter wartete am Bahnhof ein Personenzug. Remmark wies die beiden an einzusteigen.

      Schnur spürte Beklemmung. Der Waggon war eng und ohne Fenster. Er schaute auf Ann-Kathrin, doch die Staatsanwältin wirkte unbekümmert wie immer. Er gab sich einen Ruck und kletterte in die Kabine.

      Nach einer knappen halben Stunde holpriger Fahrt durch stickige warme Luft und Wetterschleusen, vorbei an lärmenden Maschinen, hatten sie ihr Ziel erreicht. Schnurs Hände waren feucht. Zum Glück konnte das niemand sehen. Es wäre ihm peinlich zuzugeben, dass er mit Klaustrophobie zu kämpfen hatte.

      Sie stiegen aus. Remmark ging voraus, zeigte auf einen Stollen zu seiner Linken und brummte: »Durch diesen Querschlag müssen wir gehen, dann kommen wir in den Streb, in dem meine Partie zurzeit arbeitet.«

      Einige Minuten schritten sie schweigend durch den dunklen Querschlag. Die Lampen an ihren Helmen sorgten für ständig hin und her springende Lichtkegel. Und doch konnte Schnur in einiger Entfernung eine weitere Bahn erkennen. Dort waren die Waggons offen.

      »Das ist die Kulibahn«, erklärte Remmark, als er Schnurs Blick bemerkte. »Damit fahren wird bis zur oberen Ecke des Strebes. Dort müssen Sie dann die Staubmasken anziehen, die ich Ihnen mitgegeben habe.«

      Die Kulibahn war so schmal, dass sie für die Fahrt hintereinander sitzen mussten. Remmark übernahm den vorderen Platz und Schnur überließ der Staatsanwältin die Mitte. Der Gang, in den sie hineinfuhren, war noch enger und dunkler als der bisherige Weg. Die Temperaturen stiegen an, bis es stickig und heiß wurde. Irgendwann wurde es wieder heller und gleichzeitig auch lauter.

      Die Kulibahn hielt an.

      Remmark, Schnur und Ann-Kathrin setzten ihre Staubmasken auf und stiegen aus dem schmalen Zug. Remmark bediente einen Taster, der an der Wand des Gangs befestigt war, und löste ein Signal aus. Schlagartig wurde es stiller, aber wohl fühlte sich keiner. Schnur wollte sich in Ruhe umschauen, doch Remmark wies ihn an, ihm zu folgen. Sie blickten in einen schmalen Gang, der rechtwinklig schräg nach unten abzweigte. Zu ihrer Rechten befanden sich schwere Stahlketten knapp über dem Boden, auf denen Kohle und sonstiges Gestein lagerten. Eine große Maschine mit schraubenähnlichen Zahnrädern vorne und hinten nahm den meisten Platz in diesem engen Schlauch ein. Stählerne Stützen ragten in der Mitte der Strecke in die Höhe. Heiße Luft blies ihnen von unten entgegen. Nur langsam verbesserte sich die Sicht. Doch leider sah Schnur die über den Boden verlaufende Querstrebe zu spät. Er stolperte und landete schmerzhaft auf seinem Knie.

      Schwarzgesichtige Bergmänner grinsten breit, einige lachten, während Schnur sich rasch wieder erhob und so tat, als spürte er nichts. Andere schauten staunend auf Ann-Kathrin, als sie merkten, dass eine Frau unter der Ausrüstung steckte. Nach fast 300 beschwerlichen Metern, in denen sie sich nur sehr langsam und vorsichtig bewegen konnten, erreichten sie den Walzenschrämlader, der an der unteren Ecke des Strebes stand.

      »Was sollen wir hier?«, fragte Schnur mürrisch. »Ich will Anhaltspunkte dafür finden, ob wir es hier mit Unfall oder Mord zu tun haben, und nicht die Reise zum Mittelpunkt der Erde nachspielen!«

      »Ich will Ihnen zeigen, wo Pitt gearbeitet hat«, antwortete Remmark. »Er war Schildfahrer.«

      Schnur schaute den Steiger fragend an.

      »Die Hydraulikschilde, über die Sie gerade gestolpert sind, stützen das Gebirge ab, das durch das Abfräsen der Kohle mit dem Walzenschrämlader frei wird.«

      Plötzlich rief einer der Bergmänner: »Was ist los? Kann ich laufen lassen? Die Grubenwarte hat schon dreimal nachgefragt, warum die Förderung steht.«

      Remmark gab ihm ein Zeichen und meinte zu Schnur: »Jetzt können Sie gleichen sehen, was ich meine.«

      Dann hörte man durch einen Lautsprecher die Ansage: »Vorsicht am Panzer.« Und sofort begann wieder der ohrenbetäubende Lärm.

      Sie sahen, wie sich die Zähne der Walze in die schwarze Wand hinein frästen. Die Kohle fiel direkt vor ihnen auf die schweren, stählernen Ketten des Panzerförderers am Fuß des Strebes. Dann bewegten sich die stählernen Mitnehmer, deren Bodenstreben für Schnur zur Stolperfalle geworden waren. Die Platten über ihnen, die die Decke vor Einbruch sicherten, senkten sich und rückten vor, bis sie fast an die Kohlewand anstießen, und fuhren wieder hoch.

      In der Zwischenzeit rumpelte und krachte es brachial von der anderen Seite. Schnur und Ann-Kathrin drehten sich erschrocken um. Remmark erklärte schreiend, dass die Kohle gerade auf den nächsten Panzer in der Fußstrecke fiel und durch den Brecher gefahren wurde. Große, unregelmäßige Kohle- und Gesteinsbrocken fuhren auf der einen Seite in den Kasten von der Größe eines VW-Busses hinein und kamen am anderen Ende zerkleinert wieder heraus, wo der Transport ebenfalls auf einem schweren Kettenförderer fortgesetzt wurde.

      Hinter den Schilden lag eine Aushöhlung, die in totaler Schwärze versank. Der Blick der Staatsanwältin blieb genau dort haften. Sie fühlte sich magisch angezogen – als sei sie immer noch das neugierige Mädchen, dem keine Gefahr zu groß war. Sie beugte sich vor, um durch den schmalen Spalt zwischen zwei Schilden hindurchzuschauen, als Remmark sie an ihrem langen Grubenmantel packte und zurückzog.

      »Halt, Frau Staatsanwältin! Der Raum hinter den Schilden ist tabu! Die ungeschützte Stelle, die nach dem Abbau hinter dem Streb zurückbleibt, nennt man den Alten Mann

      »Warum wird der nicht abgestützt?«

      »Weil alle Versuche, diesen Raum zu sichern, zu teuer wären. Und da der Kohleabbau ohnehin schon zu teuer ist, wird dafür kein Geld investiert.«

      »Klingt gefährlich.«

      »Ist es auch! Wer dort verschüttet wird, kann nicht mehr geborgen werden.«

      Mit schnellen Schritten entfernte sich Remmark, winkte den beiden Besuchern ihm zu folgen und steuerte die nächste Kulibahn an.

      »Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Schnur, als sie sich wieder hintereinander in die engen Sitze quetschten.

      »Zur Zwischensohle. Dort fährt uns die nächste Kulibahn zur sechsten Sohle.«

      »Ist ihr Kollege auf der sechsten Sohle verunglückt?«

      »Möglich.«

      Schnur war es ganz recht, dass er diese Entfernungen nicht laufen musste. Doch kaum hatte er diesen Gedanken ausgedacht, hieß es: »Aussteigen! Den Rest müssen wir zu Fuß zurücklegen.«

      Nach einem Kilometer erreichten sie den Gustavschacht.

      »Hier muss es passiert sein«, sagte Remmark.

      »Hier kann es nicht passiert sein«, widersprach Schnur.

      »Wir haben uns auch schon die Köpfe darüber zerbrochen«, gab Remmark zu. »Er muss hier hinaufgestiegen sein. Vielleicht fiel er in Ohnmacht und stürzte