Michael Bardon

Mörderische Spiele


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      Genervt schloss ich die Augen und versuchte, mich wieder auf die Stimme des kleinen Mannes zu konzentrieren.

      »Spessart Fun Tours veranstaltet seit gut zwei Jahren, an vier Tagen in der Woche, eine Geocaching-Wanderung. Sie haben also gut daran getan, dieses Einführungsseminar bei uns zu buchen. Einen kompetenteren Reiseveranstalter werden sie im ganzen Spessart-Odenwaldkreis nicht finden.«

      Gelangweilt schaute ich mich um. Wir standen vor einer Blockhütte, die etwas lieblos auf alt getrimmt worden war. Wir, das war eine vierzehn Mann starke Truppe, bunt zusammengewürfelt.

      Neben mir stand meine Frau Mia; sie hatte unserer dreizehnjährigen Tochter Julia einen Arm um die Schultern gelegt. Rechts von mir tippte mein Sohn Phil noch immer auf seinem Smartphone herum. Vor ihm stand eine vierköpfige Gruppe aus Männern mittleren Alters. Sie hatten sich Armeekleidung angezogen und trugen riesige Militärtornister auf ihren Rücken spazieren. Seitlich versetzt stand eine Familie die – wie wir – zwei Kinder hatte. Doch waren die noch wesentlich jünger und zappelten voller Ungeduld in der Gegend herum. Zwei hübsche Frauen, so Ende zwanzig, vervollständigten unsere kleine Gruppe. Sie trugen bequeme Wanderschuhe, Jogginghosen und rote Kapuzenjacken.

      Mein Blick huschte zurück zu dem kleinen, verhutzelten Männlein. Der zeigte gerade auf einen aus groben Brettern gezimmerten Tisch und sagte: »Ihre GPS-Geräte liegen dort für Sie bereit. Zusätzlich bekommen Sie auch noch eine grüne Klemm-Mappe sowie einen Bleistift ausgehändigt. Beides, ich meine natürlich die Klemmmappe und den Bleistift«, betonte er lächelnd, »sind ein Werbegeschenk von uns, das Sie im Anschluss an das Spiel mit nach Hause nehmen dürfen.«

      Er sprach weiter. »Doch kommen wir zurück zum eigentlichen Thema. Sie können Geocaching natürlich auf viele unterschiedliche Arten spielen. Man kann es zum Beispiel bei einem Waldlauf auf Zeit spielen. Bei einem gemütlichen Spaziergang mit dem Hund, und für die Lauffaulen gibt es auch ein Auto-Geocaching in der Stadt. Manche spielen es beim Tauchen unter Wasser oder auf einer schwierigen Bergwanderung. Ihrer Fantasie sind hierbei wirklich keine Grenzen gesetzt. Sie können Ihre persönlichen Vorlieben voll ausleben! Wir von Spessart Fun Tours bevorzugen jedoch eine andere Variante. Bei uns spielen Sie es in Form einer Schnitzeljagd und Sie müssen auf einer gemütlichen Wanderung durch den Wald, das eine oder andere Rätsel lösen, um an die Koordinaten für die Verstecke zu gelangen.«

      Er machte eine kurze Pause und blickte sich beifallheischend um. Ich unterdrückte ein Gähnen und fragte mich, wann es endlich losgehen würde.

      »Die Verstecke, die Sie aufspüren müssen, sind in der Regel mit einem weißen Kreuz markiert. Wenn Sie das Versteck gefunden haben, entnehmen Sie bitte eine Dose daraus. Manchmal ist es aber auch ein wetterfester Sack oder irgendetwas in der Art. Öffnen Sie dann bitte das wetterfeste Behältnis und entnehmen sie ihm das kleine Notizbuch und den versteckten Schatz. Das Notizbuch ist ein sogenanntes Logbuch. Hier tragen Sie bitte das Datum von heute ein und, wenn Sie wollen, ihren Namen. Dann entnehmen Sie den Schatz und tauschen ihn gegen einen von Ihnen mitgebrachten Gegenstand aus. Anschließend verstauen Sie das Notizbuch in dem Behältnis und verschließen es wieder gut.«

      »Woher kommen denn eigentlich diese Logbücher und die kleinen Schätze?, fragte nun eine der beiden Frauen.

      »Na, das ist so. Es gibt immer wieder Leute, die verstecken diese Dinge und veröffentlichen das Versteck anschließend in Form von Koordinaten im Internet. Die werden dann natürlich von anderen Geocachern gelesen, die dann wiederum auf die Suche nach den Verstecken gehen, sich im Logbuch eintragen und den Inhalt der Dosen austauschen. So entsteht eine Art Schneeballsystem, da es über die ganze Welt verteilt Millionen von Verstecken gibt.«

      Phil schob endlich sein Smartphone in die Hosentasche und schaute mich aus großen Augen an.

      »Hab ich was verpasst?«, wollte er leise wissen.

      Oh, wie ich diese Drecksdinger hasse, dachte ich und schüttelte unwillig meinen Kopf.

      »Unsere komplette Schnitzeljagd wird circa fünf Stunden dauern. Sie werden sehen, dass Sie beim Wandern noch nie so viel Spaß hatten wie heute«, fuhr unser Reiseführer fort. »Mit Spessart Fun Tours bekommt eine Wanderung durch den Wald einen ganz neuen Anstrich und ich könnte wetten, dass Sie in der Zukunft noch oft in die Natur hinausgehen und eine Runde Geocaching spielen. Treten Sie jetzt bitte vor und holen Sie sich ein GPS-Gerät sowie ihre Klemm-Mappe und den dazugehörigen Bleistift.«

      Ich trat an den Tisch und schnappte mir eines dieser handlichen Geräte. Es war bereits eingeschaltet und auf der abgebildeten Landkarte konnte ich unseren Standort als rot aufleuchtenden Punkt erkennen.

      »Seid ihr bereit, Familie?«, fragte Mia unternehmungslustig und sichtlich gut gelaunt.

      »Bereit!«, sagte ich und warf mir meinen alten Camel-Rucksack über die Schulter.

      »Na, dann los. Auf was wartet ihr dann noch?«, meinte meine Frau lachend und lief unserem Geocaching-Scout leichtfüßig hinterher.

      1

      Schon eine Sekunde nach dem Aufwachen spürte sie das pochende Brennen in ihren verkrampften Muskeln. Mit einem leisen Stöhnen rollte sie sich ein wenig zur Seite und versuchte, ihre Schmerzen und die auflodernde Panik zu unterdrücken. Für einen kurzen Moment hielt sie die Luft an, bemüht, ihre umhertanzenden Gedanken einzufangen. Doch ein leises Klirren störte sie beharrlich und wirbelte ihre Wünsche, Ängste und Träume wild durcheinander.

      Hilflos schnappte sie nach Luft und versuchte, in der undurchdringlichen Dunkelheit etwas zu erkennen.

      Doch alles um sie herum blieb unsichtbar. Benommen schloss sie die Augen und lauschte minutenlang der beruhigenden Monotonie ihres eigenen Atems. Sie konnte das Pochen ihres Herzens spüren und zählte im Unterbewusstsein die Anzahl seiner Schläge mit.

      Ihr Atem ging jetzt regelmäßiger, ihre Gedanken wehten nicht mehr wie Schneeflocken durch ihren Kopf. Nun konnte sie auch das seltsame, klirrende Geräusch zuordnen. Es stammte von ihren Handschellen, die sich bei jedem Atemzug am Metallgestell ihres Bettes rieben.

      Mit der Macht eines Hagelschauers brachen die Erinnerungen über sie herein und riefen ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation ins Bewusstsein. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Ein Stöhnen brach aus ihrer Kehle und ein Kälteschauer schüttelte ihren Körper.

      Sie fror erbärmlich und wünschte sich nichts sehnlicher, als noch einmal die mollige Wärme der Sonne auf ihrer nackten Haut zu spüren. Doch das Schicksal stemmte sich gegen ihren Wunsch und hatte für sie bereits eine andere Zukunft geplant.

      Gibt es vielleicht doch so etwas wie einen Gott, dachte sie verzweifelt. Hatte er sich diese Strafe für ihre Taten ausgedacht? Ich bin in der Hölle gelandet, schoss es ihr durch den Kopf, und liege hier auf diesem Bett. Gefangen in einem Keller. Angekettet wie ein Stück Vieh. Einem verrückten Spinner auf Gedeih und Verderb hilflos ausgeliefert.

       Ist er da?

      Abermals lauschte sie angestrengt in die Dunkelheit hinein. Oder war er schon wieder unterwegs und auf der Suche nach seinem nächsten Opfer? Wann hatte er ihr seinen wahnwitzigen Plan erzählt? Vorgestern, gestern oder heute?

      Sie wusste es nicht mehr genau, denn die Zeit hatte schon lange ihre Bedeutung verloren. In ihrer neuen Zeitrechnung gab es keinen Morgen, keinen Abend, kein Früh und kein Spät.

      Hatte der Tag nicht einst 24 Stunden gehabt?

      Auch daran konnte sie sich nicht mehr so genau erinnern. Es spielte in ihrer Situation einfach keine Rolle mehr. Für sie begann der Tag, wenn die Energiesparlampe an der modrigen Kellerdecke aufflammte – er endete, wenn sie wieder erlosch.

      Eine Energiesparlampe, dachte sie und runzelte dabei verächtlich ihre Stirn.

      Da schlich dieser Typ Tag für Tag durch die Gegend, suchte nach der perfekten Frau, die er entführen konnte, und dachte so nebenbei noch an seinen