Michael Bardon

Mörderische Spiele


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schüttelte ihren geschundenen Körper. Sie dachte mit Grauen an das arme Ding, das ihr Schicksal die letzten Wochen geteilt hatte.

      Mit der Zeit waren sie so etwas wie Freundinnen geworden. Hatten einander vertraut und sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte gebeichtet. Sie waren füreinander da gewesen, hatten sich mit Worten getröstet und immer wieder Mut zugesprochen.

      Und plötzlich war alles anders. Sie hatte niemanden mehr, mit dem sie reden konnte. Vor ein paar Tagen war dieser Verrückte in den Keller spaziert und hatte ihrer Freundin Wattebällchen in die Nase gestopft.

      Danach hatte er ihren nackten Körper liebevoll gestreichelt, geküsst und mit einem chinesischen Mandelöl eingerieben.

      Der ganze Keller hatte nach gebrannten Mandeln gerochen und sie war sich so vorgekommen, als stünde sie auf einem Jahrmarkt. Ihr war fast schlecht geworden von diesem penetranten Geruch. Sie hatte minutenlang gegen einen Brechreiz ankämpfen müssen.

      Als der schöne, schlanke Körper der jungen Frau im fahlen Schein der Energiesparlampe wie ein polierter Marmorstein glänzte, hatte der Verrückte ihr einen bunten Seidenschal in den Mund gestopft.

      Wie war noch gleich ihr Name gewesen?

      Mein Gott, dachte sie entsetzt, ich habe tatsächlich schon deinen Namen vergessen. Tina? Tanja? Ach, spielt das überhaupt noch eine Rolle?

      Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Todeskampf ihrer Leidensgenossin aufleuchten. Er hatte sich über Minuten hingezogen. Sie hatte gefesselt auf dem Bett gelegen und nur laut schreiend zuschauen können.

      Dieser wildzuckende Leib, der sich im Todeskampf windenden Frau. Ihre vor Panik weit aufgerissenen Augen und die Gänsehaut, die den gesamten Körper wie eine zweite Haut überzogen hatte. Es waren Erinnerungen, die sich in ihr Gehirn eingebrannt hatten. Die sie nicht mehr losließen und sie immerzu verfolgten.

      Nach Minuten des Zuckens, Strampelns und Aufbäumens hatte ihre Freundin den ungleichen Kampf schließlich verloren.

      Jetzt fiel ihr auch wieder ihr Name ein. Nicht Tina! Nicht Tanja! Nein, Tamara hatte er gelautet. Ein schöner Name, dachte sie, der zu einer schönen jungen Frau perfekt gepasst hatte. Doch jetzt war sie tot – ihr Name nur noch Makulatur.

      Tote brauchten keinen Namen! Brauchten keine Fesseln! Brauchen keine Angst mehr zu haben vor diesem Psychopathen! Doch sie hatte noch einen Namen, hatte noch Fesseln und hatte noch immer furchtbare Angst.

      Wann würde er sie töten? Wann war er ihrer überdrüssig?

      Erneut kämpfte sie gegen ihre Verzweiflung an; Tränen schimmerten in ihren Augen. Sie liefen an ihren Wangen hinunter, überflutete ihre Seele und ließen sie zurück in einem tiefen See aus Hoffnungslosigkeit.

      2

      Ich schaute genervt an die Hallendecke, holte tief Luft und schob mir die Trillerpfeife zwischen die Lippen. Der schrille auf- und abschwingende Ton übertönte das übliche Gebrüll meiner Schüler mühelos.

      Unschuldig aussehende Gesichter wandten sich mir zu, und ich genoss für einen kurzen Augenblick die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Klasse.

      »Ok, Leute, ab heute übernehme ich wieder den Sportunterricht, und das bedeutet für euch, dass das Rumgammeln hiermit ein Ende hat«, sagte ich mit einem erwartungsfrohen Lächeln im Gesicht.

      »Ist Ihr Bein denn wieder vollkommen in Ordnung, Herr Bender? Können Sie wirklich schon wieder Sport unterrichten?«, wollte Nils mit vorwitziger Stimme von mir wissen.

      »Mach dir um meine Gesundheit mal keine Sorgen! Überleg dir lieber, wie du die zwanzig Runden Aufwärmtraining überstehen willst. Los jetzt Leute! Unsere Zeit ist begrenzt, und ich will euch heute zur Abwechslung mal so richtig schwitzen sehen.«

      Allgemeines Gemaule setzte ein, und ich hörte solche Sätze wie „so ein verdammter Schleifer“ oder „sind wir Spitzensportler oder was?“.

      Erneut trällerte ich in meine Pfeife und sagte mit ruhiger Stimme in die einsetzende Unruhe meiner Schüler: »Na gut, dieses Jahr könnt ihr euch von mir aus aussuchen, welche Art Sportunterricht wir abhalten. Ich stelle euch zwei Themen zur Auswahl. Ihr habt fünf Minuten Zeit, um euch gemeinsam zu entscheiden.«

      »Und Sie akzeptieren dann unsere Entscheidung?«, fragte mich Klaas argwöhnisch.

      »Klar doch, versprochen!«, sagte ich und blickte in die gespannten Gesichter meiner Schüler.

      Der Sportunterricht in den oberen Jahrgangsstufen stellte mich als Lehrer vor fast unlösbare Probleme. Einige meiner Schüler aus der 10. Klasse liebten Sport, doch die meisten verabscheuten körperliche Ertüchtigungen. Sie bewegten stattdessen lieber ihre Finger beim Tippen auf ihrem Smartphone.

      Ich musste ja zugeben, dass meine Schüler in dieser noch nicht olympischen Disziplin wahre Hochleistungssportler waren und eine Schnelligkeit an den Tag legten, die für mich unerreichbar schien.

      Doch reichten in meinen Augen gummiartig austrainierte Finger nicht aus, um den Sportunterricht bei mir zu überstehen. Pech für die, die Sport hassten, Glück für die wenigen, die Sport liebten!

      Ich schaute noch immer in die gespannten Gesichter meiner Schüler und konnte mir ein Grinsen kaum noch verkneifen. »Zwei Möglichkeiten«, sagte ich und hob meine rechte Hand in die Höhe. »Wir ziehen dieses Jahr ein richtig hartes Programm durch, Fußball, Handball, Leichtathletik, Badminton und so. Oder wir machen Waldorf-Sport.«

      Ratlose Gesichter, wohin ich auch blickte. »Was ist Waldorf-Sport?«, fragte Nils nun mit unsicherer Stimme.

      »Waldorf-Sport wird euch gefallen, zumindest denen von euch, die Sport verabscheuen.«

      »Und was ist das nun für eine Sportart? So was wie Kampfsport oder so?«

      »Nein, nicht ganz so spektakulär«, erwiderte ich und konnte mir ein Grinsen nun doch nicht mehr verkneifen.

      »Oh, Herr Bender, nun sagen Sie schon, um was es bei Waldorf-Sport geht«, sagte nun Patrick und stemmte herausfordernd seine Hände in die Hüften.

      »Na gut, bei dieser Sportart kommt es in erster Linie auf eure Koordination an.«

      »Häh …?«

      »Koordination ist das harmonische Zusammenwirken von Sinnesorganen und dem peripheren sowie dem zentralen Nervensystem«, erklärte ich meinen Schülern geduldig.

      Jetzt schauten mich knapp zwei Dutzend verlegen dreinblickende Gesichter an.

      »Ihr wisst nicht, wovon ich rede, oder?« Betretenes Schweigen und ratlose Gesichter quittierten meine Frage.

      »Also, es geht um Folgendes. Bei meinem sogenannten Waldorf-Sport lernt ihr Buchstaben zu tanzen. Das ist eine tolle Sache. Am Ende des Schuljahres könnt ihr dann allen Schülern an dieser Schule euren Namen vortanzen. Wir gehen dafür in die …«. Aula …, wollte ich noch sagen, doch meine gesamte Schulklasse hatte sich wortlos umgewandt und fing bereits an, durch die Sporthalle zu joggen.

      »Soll ich das als eure Antwort werten?«, rief ich ihnen hinterher.

      »Wie viel Runden sagten Sie noch einmal, Herr Bender?«

      Ein Lächeln huschte über mein Gesicht und ich sagte mit väterlichem Tonfall: »Zwanzig …! Ich sagte zwanzig Runden zum Aufwärmen, mein lieber Nils.«

      Dann setzte ich mich selbst in Bewegung und joggte meinen Schülern hinterher.

       *

      Sie lag noch immer regungslos auf ihrem Bett. Gefesselt an Händen und Füssen, gefangen in einem Alptraum. Die Einsamkeit fraß ein Loch in ihre Seele und drohte, sie in einen Abgrund aus Angst und Wahnsinn zu stürzen.

      Mein Gott, wie ich dich vermisse!, dachte sie. Mir fehlt deine Stimme, deine Nähe, mir fehlt das beruhigende Gefühl, wenn du neben mir schläfst und leise atmest.