Rainer Maria Rilke

Erzählungen


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      Wieder trollten Tage, Wochen, Monate, Jahre vorbei. Eines dem anderen zum Verwechseln gleich.

      Täglich kam ich abends nachhause zur selben Stunde.

      Täglich wußte ich: der Schlüssel wird krachen, wenn ich ihn ins Schloß stecke, sich erst nicht drehen lassen und dann nach einer Sekunde mir leicht und willig die Tür öffnen, auf dem Schreibtisch werden ein oder zwei bedeutungslose Briefe harren, und die Schlafschuhe werden beim Lehnstuhl liegen, statt unterm Bette, wohin ich der Bedienerin sie zu legen befohlen hatte.

      Und täglich kams so.

      Einmal noch eine Unterbrechung. Mir ward ein Verhaftbefehl zugestellt. Ich war mir keines Vergehens bewußt. Aber alles jubelte in mir: ein Ereignis. Ich zog mich sorgfältiger denn sonst an, mich zu Gericht zu begeben in Begleitung des draußen harrenden Schutzmannes. Allein ich war noch nicht angekleidet, da trat ein Beamter bei mir ein, erzählte von einer Verwechslung und bat mich um Vergebung ob der Belästigung ...

      Und dann wieder Jahre ...

      Wie oft hab ich schon ein Verbrechen begehen wollen.

      Vergebung, gnädige Frau«, unterbrach sich Savant, als er bemerkte, wie erschrocken ihn Frau von S. anblickte. »Sie haben verlangt, daß ich erzähle, und ich will nichts verschweigen. Ja, ich war oft daran, ein Verbrechen zu begehen; denn ich will, ich muß mit aller Gewalt endlich ein Ereignis hereinzerren in mein graues, grausames Leben!« Sein Auge lohte, wie das eines verwundeten Wildes. »Den Nächsten erschlagen! So packt es mich oft auf der Straße. Aber dann fehlt mir das Mittel und die Kraft. Und ich stehe da, wie ein blöder Schulbube, der die Federn vergessen hat und schreiben soll ...

      Oft auch geh ich aus mit dem Pistol in der Tasche. Aber dann begegnen mir nur Leute, auf die zu schießen mich ekelt. Kleine verschrumpfte Gestalten, die mit dem bißchen armseliger Daseinskraft am Leben haften, wie die Spinne an ihrem Faden. Und wieder markige Arbeiter, die das Recht des Lebens an ihren schwieligen Händen tragen und auf der dumpfen, rußigen Stirn.

      Wenn ich doch wenigstens wahnsinnig würde, das ist mein Gebet, wenn ich nachts schlaflos daliege.

      Und bisweilen, da ist mir auch: Jetzt kriecht es herauf. Schwül und schrecklich. Und jetzt kichert es mir im Schädel und lacht mich aus lacht... und ich lache mit, laut und gellend. Aber dann ist es doch nicht. Ich nehme ein Zeitungsblatt und lese zwei, drei Zeilen, und sehe, daß ich alles noch erfasse Wort für Wort, Satz für Satz. Nein, auch wahnsinnig darf ich nicht werden! Auch das nicht.«

      Savant kämpfte ein Weinen zurück.

      Alle saßen stumm da und blickten entsetzt auf den Sprecher. Nur der Major, der krebsrot war, hackte mit dem Sporn des linken Fußes leise gegen die Dielen.

      Das klang wie Totenwurmpochen.

      Ein Schauer ging durchs Zimmer.

      Keine Tasse regte sich.

      »Ich bin zu Ende«, raunte der Unglückliche jetzt matt und klanglos.

      »Ein anderer könnte glücklich sein in diesem glatten, farbenarmen Leben. Er könnte gut und viel essen, die gute Verdauung behalten und sehr dick werden.

      Mich aber, mich, der ich einen heißen, sehnenden Drang nach einem Ereignisse in mir trage, von Kindheit an, mich tötet es.

      Meine Wange glüht vor Sehnsucht, aber der Sturm des Lebens kommt nicht, der sie kühlen soll.«

      Der Sterbetag

      Tante Babette tat noch einen tiefen Atemzug. Die Morgensonne lugte wie ein übermütiges Enkelkind durch die schimmerweißen Tüllvorhänge, nahm den längsten Strahl und fuhr damit wie mit goldener Feder erst über die weiße Nachthaube, dann über die feuchte Stirne der alten Frau und zitterte und zuckte dann ohne Rast um Augen, Mund und Nase, bis die Tante obigen tiefen Atemzug tat und mit scheuen roten Augen ins Fenster staunte. Ah! sie reckte sich zu einem wohligen Gähnen. Bei aller Trägheit war etwas Entschiedenes und Abschließendes in diesem Gähnlaut; er war, wie der Gedankenstrich, den einer unter eine fertige gelungene Arbeit setzt. Ah.

      Sie schloß nochmals die Augen und lag mit einer Miene da, als hätte sie just einen Löffel süßen Kaffees verschluckt oder eine Bosheit ausgesprochen, die fein saß. Das Zimmer war ganz licht und ganz still. Immer mehr Strahlen warf die übermütige Sonne herein, und sie staken wie wurfzitternde Speere in den blanken Dielen und den glänzenden Empiretischchen, und irgend ein unsichtbarer Kobold warf hunderte zurück aus dem großen Wandspiegel, just der Sonne ins Gesicht.

      Wie ferne Schlachtmusik summte an den Scheiben eine Fliegenkapelle zu dem hellen Hin und Wider des heiteren Speerstreites, und das sachte Surren sickerte in den leisen, halben Schlummer der guten Tante, und die kühlen Wellen des Frühlingsschimmers spülten immer mehr Fältchen fort von den lächelnden Zügen. Und sie sah ordentlich jung aus, wie sie dann ziemlich energisch in den Kissen aufsaß und im Zimmer herumblickte. Alle Dinge hatten etwas Glänzendes, Neues, und sie freute sich daran. Zarter Hyazinthenduft wellte von den Blüten auf dem Fensterbrett und mengte sich mit dem leisen Lavendel, das aus ihren Kissen stieg. Die alte Jungfer schaute flüchtig auf den Öldruck der Maria, dessen Schatten so furchtbar grün glänzten in dem Voll-Licht. Ihre mageren, harten Hände machten ein hastiges Kreuz, und gleich darauf schalt sie den schläfrigen Kanari, der über dem Fenster hing und trotz des frohen Morgens noch nicht singen mochte. Auf dem Rückweg vom Fenster blieb ihr Blick auf dem Kanapee hangen. Dort lagen fein pedantisch neben einander: ein geschlossener Hut mit breitem schwarzem Trauerschleier, der wie ein nächtiger Wildbach schwer von der Lehne floß, ein Paar schwarze Handschuhe, jeder einzeln, wie in unversöhnlicher Feindschaft, ein noch schwärzeres Urvätergebetbuch, und nur zwei sehr weiße Taschentücher glänzten wie das Schimmelgespann eines jungfräulichen Begräbnisses in dem vielen, tieftrauernden Schwarz. Die Tante starrte mit fremden Augen hin, und alle Falten kehrten wie dunkle Raupen in ihr altes Gesicht zurück. Eine Weile rechnete sie: Montag 12., Dienstag 13., Mittwoch 14., Donnerstag 15., Freitag 16. Und dann konstatierte ihr müdes, entsagendes Kopfnicken: heute ist der 16. April, Freitag, der siebente Sterbetag ihres, Gott hab ihn selig, Bruders, des Herrn Oberfinanzrates Johann August Erdmanner. Er war drei Jahre älter als sie und starb mit Hinterlassung einer trostlosen Witwe und zweier noch unmündiger Kinder in dem besten und kräftigsten Mannesalter von fünfzig Jahren, versehen mit den heiligen Sterbesakramenten, nachmittags um vier Uhr, gerade als alle hinausgegangen waren, einen Tropfen Kaffee zu trinken. Und die ganze helle Morgenstube verging der alten Dame. Der gute Johannes fiel ihr ein, wie mager und verschrumpft er war, und die junge Witwe, die kaum fünf Jahre an seiner Seite gelebt hatte, und der Doktor mit dem knallroten Gesicht. Und die Hermine, die Witwe, meint immer noch, daß der nicht getrunken hat mna! Und die Nonne, was die gut Karten legen konnte übers Kreuz; der sagten die Karten aber auch alles. Und schön wars am nächsten Tage. Diese Spalten in der Zeitung, und die Besuche, die vielen ernsten und verweinten Gesichter, und der schäbige Kranz, den der Hausherr geschickt hat, und die vielen guten Kränze: er hat eine sehr schöne Leiche gehabt, der Herr Oberfinanzrat Johann August Erdmanner. Und würdig wurde in jedem Jahre der Sterbetag des Seligen gefeiert. Um zehn Uhr fand sich die ganze Familie in voller Trauer in der Kirche von Mariä-Himmelfahrt zusammen, und alle hatten schwarze Handschuhe, bleiche Wangen und rote Augen. Und alle sprachen den ganzen Tag leise und heiser, wie wenn sie beständiges Schlucken hätten, und nickten sich in einem fort mit feierlichen Gesichtern zu. Wenn sie in die dumpfige Kirche eintraten, dankten sie den alten Weibern, die die widerspenstigen Türflügel bekämpften, mit vor Rührung schwimmender Stimme und tauchten die schlechten, schwarzen Handschuhe so ausdauernd in den Weihkübel, daß jedes folgende Bekreuzigen schwarze Male in ihren scheuen, entsagenden Zügen zurückließ. Und die weißen Taschentücher bekamen in den gefalteten Fingern etwas Lauerndes, als wünschten sie zu den triefenden Augen hinüberzuwachsen. Ihr Wunsch fand reichlich Gewähr. Sogar der Priester mit dem frischen Gesicht zwang ein paar Jammerfalten in die Nähe seiner satten Lippen und sah drein, als holte er die Reste eines sauren Trunkes mit widerwilliger Zunge aus den Mundwinkeln. Und wenn er über die Stufen des dunklen Altars tappte und unten wie ein übel geratener Pudding zusammenbrach und, begleitet von dem Lautieren des rothaarigen Ministranten, aus tiefer Brust anhub: