Rainer Maria Rilke

Erzählungen


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als ein ganz unkenntlicher Knäuel von schwarzem Crépe und Tuch. Die erschütternde Rührung war wie ein Eisenbahnzug über die Hinterbliebenen gefahren, und sie lagen und hockten zwischen den glänzenden Bänken, wie Verstümmelte zwischen den Schienen.

      So war es sechsmal gewesen, und die alte Tante in den Lavendelkissen wußte, daß es zum siebenten mal heute ebenso, ganz ebenso sein würde.

      Sie warf einen so verzweifelten Blick auf das Perlmutterblatt der steifen Empireuhr, als stünde diese eben im Begriffe, ihre eigene letzte Stunde zu schlagen. Sie wollte aufstehen; aber nach einem jähen Ruck glitten die Hände ohnmächtig von dem weißen Dunenbett wie von einem zentnerschweren Eisberg. Sie empfand die heftigen Stiche in Kreuz und Nacken, die ein paar Wochen lang sich nicht gemeldet hatten, ein Frösteln rieselte über ihren Rücken, und der Kopf war schwer und schwül.

      Sie stöhnte auf und war sehr blaß. So, gerade so war ihre Mutter gestorben; früh an einem hellen Tag nach schlimmer Nacht... und der alten Frau kam auf einmal zu Sinn, daß sie eigentlich die letzte Nacht auch kaum ein Auge geschlossen hatte. Gewiß nicht, jetzt wußte sie's. Eisiger Schweiß perlte aus ihren Poren. Und sie erinnerte sich, wie die Nonne, die so gut Karten legen konnte, ihrem armen seligen Bruder in seiner letzten Stunde auch immer wieder die Stirne trocknen mußte. Kam das wirklich schon? Sie faltete die Hände krampfstarr über der weißen Decke.

      Der Kanari setzte immer wieder von neuem einen Lauf an. Die Hyazinthen waren, als ob sie müde wären, und der helle blasse Tag streckte und reckte sich breit und nüchtern auf den Dielen.

      Tante Babette dämmerte vor sich hin. Dann fiel ihr ein: Wie war doch ihr Vater gestorben? Sie runzelte die Stirne; so sehr strengte sie sich an, um sich dessen zu entsinnen. Sie atmete auf: Richtig. Sie haben ihn gebracht. Auf der Gasse war er bewußtlos zusammengebrochen. Und sie wußte: Es ist doch noch eine Gnade so im Bett... und rührte sich nicht.

      Die Flucht

      Die Kirche war ganz leer.

      Durch das bunte Glasfenster über dem Hauptaltar brach der Abendstrahl, breit und schlicht, wie alte Meister ihn auf der Verkündigung Mariens darstellen, in das Hauptschiff und frischte die verblaßten Farben des Stufenteppichs auf. Dann durchschnitt der Lettner mit seinen barocken Holzsäulen den Raum, und jenseits desselben wurde es immer dunkler, und die kleinen ewigen Lampen blinzelten immer verständnisvoller vor den nachgedunkelten Heiligen.

      Hinter dem letzten, plumpen Sandsteinpfeiler war es ganz Nacht. Dort saßen sie, und über den beiden hing ein altes Stationsbild. Das blasse Mädchen drückte ihre lichtbraune Jacke in die dunkelste Ecke der schweren, schwarzen Eichenbank. Die Rose auf ihrem Hut kitzelte dem Holzengel in der geschnitzten Lehne das Kinn, so daß er lächelte. Fritz, der Gymnasiast, hielt die beiden winzigen Hände des Mädchens, welche in zerschlissenen Handschuhen staken, in den seinen, so wie man ein kleines Vögelchen hält, sanft und doch sicher. Er war glücklich und träumte: sie werden die Kirche zusperren und uns nicht bemerken, und wir werden ganz allein sein. Gewiß gehen Geister hier in der Nacht. Sie schmiegten sich fest aneinander, und Anna flüsterte ängstlich: »Ists nicht schon spät?« Da fiel ihnen beiden ein Trauriges ein; ihr der Platz am Fenster, an dem sie tagaus tagein nähte; man sah eine häßliche, schwarze Feuermauer von dort und niemals Sonne. Ihm sein Tisch, voll mit Lateinheften, auf dem aufgeschlagen lag Πλάτων, συμπόσιον. Die beiden Menschen schauten vor sich hin, und ihre Blicke gingen derselben Fliege nach, welche durch die Rillen und Runen der Betbank pilgerte.

      Sie sahen sich in die Augen.

      Anna seufzte. Fritz legte leise und hütend den Arm um sie und sagte:

      »Wer doch so fort könnte.«

      Anna blickte ihn an und sah die Sehnsucht, die in seinen Augen leuchtete. Sie senkte die Lider, wurde rot und hörte: »Überhaupt sie sind mir verhaßt, gründlich verhaßt. Weißt du: wie sie mich ansehen, wenn ich von dir komme. Sie sind lauter Mißtrauen und Schadenfreude. Ich bin kein Kind mehr. Heut oder morgen, wenn ich was verdienen kann, gehen wir zusammen, weit fort. Allen zum Trotz.«

      »Hast du mich lieb?« Das blasse Kind lauschte.

      »Unbeschreiblich lieb.« Und Fritz küßte ihr die Frage von den Lippen.

      »Wird das bald sein, daß du mich mit dir nimmst?« zögerte die Kleine. Der Gymnasiast schwieg. Er hob unwillkürlich den Blick, ging der Kante des plumpen Sandsteinpfeilers nach und las über dem alten Stationsbild: »Vater vergib ihnen...«

      Da forschte er ärgerlich: »Ahnen sie was bei dir zu Haus?«

      Er drängte die Anna: »Sag.«

      Sie nickte ganz leis.

      »So«, wütete er, »ich sags ja, also doch. Diese Klatschbasen. Wenn ich nur...« Er grub den Kopf in die Hände.

      Anna lehnte sich an seine Schulter. Sie sagte einfach:

      »Sei nicht traurig.«

      So verharrten sie.

      Plötzlich sah der junge Mensch auf und sagte:

      »Komm fort mit mir!«

      Anna zwang ein Lächeln in ihre schönen Augen, welche voll Tränen waren. Sie schüttelte den Kopf und sah sehr hilflos aus. Und der Student hielt wieder wie früher ihre winzigen Hände, die in schlechten Handschuhen staken. Er sah in das lange Hauptschiff hinein. Die Sonne war erloschen, und die bunten Glasfenster waren häßliche, mattfarbene Kleckse. Es war still.

      Dann begann hoch in der Halle ein Piepsen. Beide schauten auf. Sie bemerkten eine verirrte kleine Schwalbe, welche mit müden, ratlosen Flügeln das Freie suchte.

      Auf dem Heimweg dachte der Gymnasiast an ein verabsäumtes lateinisches Pensum. Er beschloß, noch zu arbeiten, trotz des Widerwillens, den er hatte, und trotz aller Müdigkeit. Aber fast unwillkürlich machte er einen großen Umweg, verirrte sich sogar ein wenig in der sonst gut bekannten Stadt, und es war Nacht, als er in seine enge Stube trat. Auf den Lateinheften lag ein kleines Briefchen. Er las bei der unsicher flackernden Kerze:

      »Sie wissen alles. Ich schreibe Dir unter Tränen. Der Vater hat mich geschlagen. Es ist schrecklich. Jetzt lassen sie mich nie mehr allein ausgehen. Du hast recht. Komm fort. Nach Amerika oder wohin du willst. Ich bin morgen früh um sechs Uhr auf der Bahn. Da geht ein Zug. Vater fährt immer auf die Jagd damit. Wohin weiß ich nicht. Ich schließe. Es kommt jemand.

      Also erwarte mich. Bestimmt. Morgen um sechs. Bis in den Tod Deine

      Anna.

      Es war niemand. Wohin, glaubst Du, gehen wir? Hast Du Geld? Ich habe acht Gulden. Diesen Brief schick ich Dir durch unser Dienstmädchen an das euere. Mir ist jetzt gar nicht mehr bang.

      Ich glaube, Deine Tante Marie hat geklatscht.

      Sie hat uns also Sonntag doch gesehen.«

      Der Gymnasiast ging in großen und energischen Schritten auf und nieder. Er fühlte sich wie befreit. Sein Herz pochte heftig. Er empfand auf einmal: Mann sein. Sie vertraut sich mir an. Ich darf sie beschützen. Er war sehr glücklich und wußte: Sie wird mir ganz gehören. Das Blut stieg ihm in den Kopf. Er mußte sich setzen, und dann kam ihm in den Sinn: Wohin?

      Diese Frage wollte nicht schweigen. Fritz übertönte sie dadurch, daß er aufsprang und Vorbereitungen machte. Er legte ein wenig Wäsche und ein paar Kleider zurecht und preßte die ersparten Guldenscheine in das schwarze Ledertäschchen. Er war voll Eifer, schob ganz unnütz alle Laden auf, nahm Gegenstände und trug sie wieder an ihren alten Platz, warf die Hefte vom Tische in irgend eine Ecke und zeigte seinen vier Wänden mit prahlerischer Deutlichkeit: Hier ist Auswanderung, Schluß.

      Mitternacht war vorbei, als er am Bettrand niedersaß. Er dachte nicht ans Schlafen. Angekleidet legte er sich hin, nur weil ihn, wahrscheinlich vom vielen Bücken, der Rücken schmerzte. Er dachte noch einige mal: Wohin? und sagte laut: »Wenn man sich wirklich lieb hat...«

      Die Uhr tickte. Tief unten fuhr ein Wagen vorbei, und die Scheiben zitterten davon. Die Uhr, die noch von den