Gustav Le Bon

Die Psychologie der Massen


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Zahl von Gelehrten zugänglich wäre, würde nur schwaches Interesse wecken.

      Der Philosoph, der die sozialen Erscheinungen studiert, muss sich vor Augen halten, dass sie neben ihrem theoretischen auch praktischen Wert haben und dass dieser vom Gesichtspunkt der Kulturentwicklung der einzig bedeutsame ist. Das muss ihn sehr vorsichtig machen gegen die Folgerungen, welche die Logik ihm zunächst einzugeben scheint. Auch andere Gründe veranlassen ihn zur Zurückhaltung. Die sozialen Tatsachen sind so verwickelt, dass man sie in ihrer Gesamtheit nicht umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung nicht voraussagen kann. Auch scheinen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft Tausende von unsichtbaren Ursachen zu verbergen. Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Folgen einer riesigen, unbewussten Wirkungskraft zu sein, die nur zu oft unserer Untersuchung unzugänglich ist. Die wahrnehmbaren Erscheinungen lassen sich den Wogen vergleichen, welche der Oberfläche des Ozeans die unterirdischen Erschütterungen mitteilen, die in seinen Tiefen vorgehen, und die wir nicht kennen. In den meisten Fällen zeigt die Handlungsweise der Massen eine außerordentlich niedrige Geistigkeit; aber in anderen Handlungen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kräften gelenkt zu werden, welche die Alten Schicksal, Natur, Vorsehung nannten, die wir als die Stimmen der Toten bezeichnen, und deren Macht wir nicht verkennen können, so unbekannt uns auch ihr Wesen ist. Oft scheint es, als ob die Völker in ihrem Schoß verborgene Kräfte tragen, von denen sie geführt werden. Kann etwas verwickelter, logischer, wunderbarer sein als eine Sprache? Und entspringt nicht dies wohlgeordnete und feine Gebilde der unbewussten Massenseele? Die gelehrtesten Hochschulen verzeichnen nur die Regeln dieser Sprachen, wären aber nicht imstande, sie zu schaffen. Wissen wir sicher, ob die genialen Ideen der großen Männer ausschließlich ihr eigenes Werk sind? Zweifellos sind sie stets Schöpfungen einzelner Geister, aber die unzähligen Körnchen, die den Boden für den Keim dieser Ideen bilden, hat die Massenseele sie nicht erzeugt?

      Gewiss üben die Massen ihre Wirkungskraft stets unbewusst aus. Aber vielleicht ist gerade dies Unbewusste das Geheimnis ihrer Kraft. In der Natur gibt es Wesen, die nur aus Instinkt handeln und Taten vollbringen, deren wunderbare Mannigfaltigkeit wir anstaunen. Der Gebrauch der Vernunft ist für die Menschheit noch zu neu und zu unvollkommen, um die Gesetze des Unbewussten enthüllen zu können und besonders, um es zu ersetzen. Der Anteil des Unbewussten an unseren Handlungen ist ungeheuer und der Anteil der Vernunft sehr klein. Das Unbewusste ist eine Wirkungskraft, die wir noch nicht erkennen können. Wollen wir uns also in den engen, aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Felde unbestimmter Vermutungen und nichtiger Voraussetzungen umherirren, so dürfen wir nur die Erscheinungen feststellen, die uns zugänglich sind, und müssen uns damit begnügen. Jede Folgerung, die wir aus unseren Beobachtungen ziehen, ist meistens voreilig; denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche, die wir undeutlich sehen, und hinter diesen wahrscheinlich noch andere, die wir überhaupt nicht erkennen.

      Le Bon

      Das Zeitalter der Massen

      Entwicklung des gegenwärtigen Zeitalters — Die großen Kulturwenden sind die Folge von Wandlungen im Denken der Völker — Der Glaube der Neuzeit an die Macht der Massen — Er verändert die hergebrachte Politik der Staaten — Wie sich das Emporkommen der Volksklassen vollzieht und wie sie ihre Macht ausüben — Die Syndikate — Notwendige Folgen der Macht der Massen — Sie können nur eine zerstörerische Rolle spielen — Durch sie vollendet sich die Auflösung der zu alt gewordenen Kulturen — Allgemeine Unkenntnis der Psychologie der Massen — Wichtigkeit des Studiums der Massen für Gesetzgeber und Staatsmänner

      Entwicklung des gegenwärtigen Zeitalters - Die Massen als Zerstörerinnen der Kultur

      Allgemeine Symptome, die bei allen Nationen erkennbar sind, zeigen uns das reißende Anwachsen der Macht der Massen. Was es auch bringen mag, wir werden es ertragen müssen. Alle Anschuldigungen sind nur nutzloses Gerede. Vielleicht bedeutet der Aufstieg der Massen eine der letzten Etappen der Kulturen des Abendlandes, die Rückkehr zu jenen Zeiten verworrener Anarchie, die stets dem Aufblühen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen. Aber wie wäre er zu verhindern?

      Bisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen großen Zerstörungen der alten Kulturen. Die Geschichte lehrt uns, dass in dem Augenblick, da die moralischen Kräfte, das Rüstzeug einer Gesellschaft, ihre Herrschaft verloren haben, die letzte Auflösung von jenen unbewussten und rohen Massen, welche recht gut als Barbaren gekennzeichnet werden, herbeigeführt wird. Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen, intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung. Eine Kultur setzt feste Regeln, Zucht, den Übergang des Triebhaften zum Vernünftigen, die Vorausberechnung der Zukunft, überhaupt einen hohen Bildungsgrad voraus — Bedingungen, für welche die sich selbst überlassenen Massen völlig unzugänglich sind. Vermöge ihrer nur zerstörerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung geschwächter Körper oder Leichen beschleunigen. Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei. Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage. Plötzlich wird die blinde Macht der Masse für einen Augenblick zur einzigen Philosophie der Geschichte.

      Wird es sich mit unsrer Kultur ebenso verhalten? Es ist zu befürchten, aber wir wissen es noch nicht.

      Wir müssen uns damit abfinden, die Herrschaft der Massen zu ertragen, da unvorsichtige Hände allmählich alle Schranken, die jene zurückhalten konnten, niedergerissen haben.

      Wir kennen diese Massen, von denen man jetzt so viel spricht. Die Psychologen von Fach, die nicht in ihrer Nähe leben, haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in Bezug auf die Verbrechen beschäftigt, zu denen sie fähig sind. Zweifellos gibt es verbrecherische Massen, aber es gibt auch tugendhafte, heroische und noch viele andersartige Massen. Die Massenverbrechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenlebens und lassen ihre geistige Beschaffenheit nicht besser erkennen als die eines Einzelwesens, von dem man nur seine Laster kennt.

      Doch offen gestanden: Alle Herren der Erde, alle Religions- und Reichsstifter, die Apostel aller Glaubensrichtungen, die hervorragenden Staatsmänner und, in einer bescheideneren Sphäre, die einfachen Häupter kleiner menschlicher Gemeinschaften waren stets unbewusste Psychologen mit einer instinktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele; weil sie diese gut kannten, wurden sie so leicht Machthaber. Napoleon erfasste wunderbar das Seelenleben der französischen Massen, aber er verkannte oft völlig die Massenseele fremder Rassen*). Diese Unkenntnis veranlasste ihn, namentlich in Spanien und Russland, Kriege zu führen, die seinen Sturz vorbereiteten.

      Übrigens verstanden sich seine klügsten Ratgeber nicht besser darauf. Talleyrand schrieb ihm, Spanien würde seine Soldaten als Befreier empfangen. Es empfing sie wie Raubtiere. Ein mit den Erbinstinkten der Rasse vertrauter Psychologe hätte diesen Empfang leicht voraussehen können.

      Die Massen und der Staatsmann

      Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen — das ist zu schwierig geworden —, aber wenigstens nicht allzu sehr von ihnen beherrscht werden will.

      Die Massenpsychologie zeigt, wie außerordentlich wenig Einfluss Gesetze und Einrichtungen auf die ursprüngliche Natur der Massen haben und wie unfähig diese sind, Meinungen zu haben außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden; Regeln, welche auf rein begrifflichem Ermessen beruhen, vermögen sie nicht zu leiten. Nur die Eindrücke, die man in ihre Seele pflanzt, können sie verführen. Darf z.B. ein Gesetzgeber, der eine neue Steuer auflegen will, die theoretisch gerechteste wählen? Keinesfalls. Die ungerechteste kann praktisch für die Massen die beste sein, wenn sie am unauffälligsten und leichtesten in Erscheinung tritt. Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden. Wenn sie täglich pfennigweise für Konsumartikel entrichtet wird, stört sie die Gewohnheiten nicht und beeinflusst sie wenig. Man lege an ihrer Stelle eine proportionale, auf einmal zu entrichtende Steuer auf