Monika Clayton

TEE macht tot


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ein bisschen Abstand, um reibungslos zu funktionieren.

      „Ach herrje!“, murmelte sie vor sich hin. „Da muss ich erst 50 Jahre hier wohnen, um darauf zu kommen.“

      Von unten hörte sie das bestellte Taxi hupen.

      „Ich komme ja gleich!“, grummelte Esther, zog einen Stuhl unter dem Esstisch hervor und ließ sich darauf nieder. Leicht strich ihre Hand über den Tisch. Wie oft hatte sie an diesem dunklen Holztisch, der stets mit einem Strauß Wiesenblumen geschmückt war, gesessen? Ohne die Blumen und vor allem ohne ihren Karli wirkte er jetzt jedoch seltsam fremd.

      Erneut hupte das Taxi. Esther stand auf und schob den Stuhl wieder ordentlich unter den Tisch.

      Prüfend warf sie im Vorbeigehen noch einen Blick in einen der Küchenschränke. Sie musste sich auf Zehenspitzen stellen, um ganz hineinsehen zu können. Der Schrank war leer. Nicht ein Teller war übriggeblieben.

      Alles, was etwas wert gewesen war, hatte sie verschenkt. Wie auf einem Flohmarkt war ihre Nachbarschaft in ihrer Wohnung umhergestreift, hatte in Schränken gestöbert und eingepackt, was sie glaubten, gebrauchen zu können, oder von dem sie meinten, daraus Geld machen zu können. Esther Friedrichsen hatte das nicht gestört. Ihre Erinnerungen bewahrte sie schließlich in ihrem Kopf auf und nicht in Schränken.

      Dort, wo sie nun hinging, brauchte sie von all den Dingen ohnehin nichts mehr, und das, was sie benötigte, hatte sie in zwei Koffern verstaut. In einem befanden sich, fein säuberlich verpackt, ihre Kräuter, in dem anderen ihre Kleidung.

      Wehmütig schlenderte sie endgültig zur Wohnungstür und zog sie hinter sich zu. Den Schlüssel, den sie sonst so sorgfältig in ihre Tasche packte, warf sie heute in den Briefkasten.

      Unwillig sah der Taxifahrer sie an, als sie endlich auf der Rückbank Platz nahm.

      „Wo soll´s hingehen?“, fragte er mürrisch. Unendlich genervt, mit welcher Ruhe sie im Leben umhertrabte.

      „St. Benedikta, das liegt beim …“, antwortete Esther leise.

      „Ich weiß, am Starnberger See. Meine Mutter war auch dort.“ Der Blick des Fahrers wurde freundlicher. „Ihr Umzug nach St. Benedikta?“

      Mit wässrigen Augen nickte Esther Friedrichsen. Ja, das sei die letzte Station ihres Lebens, meinte sie. Melancholisch guckte Esther noch einmal zurück. Zurück auf ihr altes Leben, zurück auf ihren alten Wohnblock in ihrem alten Wohnviertel. Dann atmete sie tief durch, versuchte mit aller Kraft, die trüben Gedanken wegzuwischen und wandte sich wieder dem Fahrer zu, der sie in ihr neues Leben befördern sollte.

       1.Kapitel

      Schon früh hatte sein Vater ihn gelehrt, jede Entscheidung, die er für sein Leben treffen musste, genau abzuwägen und von verschiedenen Faktoren abhängig zu machen.

      „Welche Faktoren sind das?“, wollte der 7-jährige Balthasar Sebastian Rohrasch wissen.

      „Das ist abhängig von dem, was dein Ziel ist, mein Junge“, erklärte der Vater. „Nicht der Weg bestimmt dein Ziel, sondern das Ziel deinen Weg.“

      „Das verstehe ich nicht, Vater.“

      Vater Rohrasch nahm sich ein Blatt Papier setzte sich an den Küchentisch und holte sich seinen Sohn auf den Schoß. „Hast du ein Ziel“, erklärte der Vater, während er flink eine Tabelle auf das Papier kritzelte, „dann schreib dir alles auf, was dir dazu einfällt, um dahin zu kommen.“

      „Meinst du meine Wünsche?“, erkundigte sich der kleine Balthasar Sebastian Rohrasch mit wissbegierigem Blick.

      „Nein, mein Sohn, ein Wunsch ist einer der Schritte, um ein Ziel zu erreichen.“

      „Aber ist das denn nicht dasselbe?“ Der kleine Junge verstand das nicht.

      „Nein, ein Wunsch hat mit dem Ziel nichts zu tun. Wünsche kannst du Hunderte haben, alle gleichzeitig, aber durch hundert Ziellinien kannst du nicht gleichzeitig rennen. Pick dir aus deiner Wunschliste einen Wunsch heraus, mach ihn zu deinem Ziel, und dann fang an zu laufen!“ Der Vater rutschte seinen Sohn wieder ordentlich auf seinen Schoß und erläuterte ihm alles noch einmal. „Hör zu, Junge! Angenommen, du willst ein Auto, diese neue Erfindung, den Computer, ein Haus und ein Pferd haben!“

      „Einen Computer hätte ich sehr gerne, aber was soll ich mit einem Pferd?“, warf der Junge fragend ein.

      „Es ist nur ein Beispiel, und jetzt hör zu! Angenommen, du willst das alles haben, wo würdest du anfangen?“

      „Ich weiß es nicht“, seufzte der kleine Balthasar und schaute angestrengt nach oben, um darüber nachzudenken.

      „Siehst du!“, munterte der Vater ihn auf, „ich würde das auch nicht wissen. Alle vier Dinge zu bekommen, würde nämlich bedeuteten, dass ich mir ein weiteres übergeordnetes Ziel stecken muss. In diesem Fall das Geld. Ich muss also so viel verdienen, damit ich mir alle vier Dinge gleichzeitig leisten kann. Der Weg, den ich einschlagen müsste, wäre entbehrungsreich und lang. An allen vier Wünschen müsste ich erst einmal vorbeilaufen, um dann später zurückzugehen, um sie mir zu erfüllen. Aber es gibt auch einen anderen Weg. Mach dir für den Anfang nur einen deiner Wünsche zum Ziel! Der Weg dorthin ist realisierbar. Wenn du dieses Ziel erreicht hast, kannst du zum nächsten Ziel laufen. Ein Sieg, mein Junge, wird in kleinen Etappen gewonnen, immer nur in kleinen Etappen!“

      Langsam verstand der kleine Balthasar, was sein Vater ihm sagen wollte. „Hast du dich deswegen für den Beruf des Totengräbers entschieden, Vater? War das dein Ziel?“

      „M-hm …, fast“, nickte sein Vater. Das sei der Beruf, der ihn seinem Ziel näherbringen sollte; sein Wunsch sei es gewesen, eine Arbeit zu bekommen, die unabhängig von Rezession sei und gut bezahlt wurde, erklärte der Vater. In der Nachkriegszeit sei es schwierig gewesen, eine Arbeit zu finden. Verdammt schwierig! Deshalb habe er sich drei Berufe notiert, die gute Chancen hatten, ihn seinem Ziel näher zu bringen: Bäcker, Metzger und Totengräber. Diese habe er einander gegenübergestellt, und nachdem er das zu erwartende Einkommen, die künftigen wirtschaftlichen Entwicklungen und sein persönliches Interesse ermittelt hätte, sei der Beruf des Bäckers durch das Raster gefallen. Die frühen Arbeitszeiten hätten so ganz und gar nicht zu seinen persönlichen Vorlieben gepasst; auch die Einkünfte seien nicht sehr berauschend, da helfe es auch nichts, dass Brot immer ein Lebensmittel sein würde, welches Menschen benötigen würden. Der Vater räusperte sich: „Blieben also nur noch der Beruf des Metzgers und der des Totengräbers.“

      Beide Berufe konnten durchaus mit einer gewissen Kontinuität aufwarten, denn auch in Zukunft würde der Mensch ein Fleischfresser bleiben, und somit wäre dieser Beruf auch weiterhin gefragt. Allerdings würde auch weiterhin gestorben werden, weshalb der Punkt 'wirtschaftliche Entwicklungen' nicht aussagekräftig genug war. In diesem Fall halfen Vater Rohrasch jedoch die persönlichen Vorlieben weiter.

      Und so schied auch der Metzger aus, da dieser Beruf doch eine sehr blutige Angelegenheit sei. Mit Blut habe er so seine Probleme, ließ er seinen Jungen wissen. Wenn es aber seinem Ziel, nie arbeitslos zu werden, dienlich gewesen wäre, hätte er sich zwar überwunden, aber da noch eine Alternative vorhanden war, habe er sich eben für den Beruf des Totengräbers entschieden.

      Dass er seinen Beruf nach diesem Prinzip ausgewählt und es tatsächlich geschafft habe, in seinem ganzen Leben nicht einmal beschäftigungslos zu sein, sei ein Beweis dafür, dass er richtig entschieden hatte.

      An seinem elften Geburtstag schenkte Vater Rohrasch seinem Sohn den ersten Rechner. Es war ein Commodore C64. Ob er einer der Ersten war oder einer von vielen, der in das Computerzeitalter einstieg, wusste Balthasar Sebastian Rohrasch nicht. Ob er wegen dieses Geschenks seine Leidenschaft für Statistiken und Zergliederungen entwickelte? Vermutlich. Aber auch sein Vater hatte wohl seinen Teil dazu beigetragen.

      Natürlich war der kleine Rohrasch zu Beginn, wie jeder Junge, mehr an den Spielen interessiert, doch im Laufe der Jahre entwickelte er eine Leidenschaft, wie sie nur ein Nerd verstehen würde. Er programmierte,