Monika Clayton

TEE macht tot


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dass der Name immer bestehen bleiben müsse.

      Die alte Frau habe das Haus nach ihrem Tod an eine gemeinnützige Stiftung vererbt, die jedoch mehr an Barem als an Immobilien interessiert gewesen sei. Das Haus sei in den letzten 30 Jahren wohl so an die acht Mal verkauft worden, bis es dann irgendwann in seine Hände gelangte. Heute würden der Friedhof und das Altenheim nur noch den Namen gemeinsam tragen, erklärte der Heimleiter. Und außerdem meinte Stulp weiter, erspare der Friedhof in der direkten Nachbarschaft lange Transportwege. „Also? Übernehmen Sie?“, kam Stulp urplötzlich wieder auf seine eigentliche Frage zurück.

      Balthasar Sebastian Rohrasch, der keine Entscheidung aus dem Bauch heraus treffen wollte, bat um etwas Bedenkzeit und stellte einige Überlegungen an, die jedoch durch den Tod seiner Mutter unterbrochen wurden.

      Mag es vielleicht äußerlich nicht den Anschein erweckt haben, dass er im zwischenmenschlichen Bereich Gefühle zeigen konnte, dennoch saß seine Trauer tief. Für die nächsten Wochen stellte er seine Entscheidung deshalb zurück.

      Lange dachte er über das nach, was kurz vor ihrem Tode, geschehen war. An ihrem Todestag, von dem er nicht wusste, dass es ihr Todestag sein würde, wurde sie noch einmal sehr klar. Balthasar Sebastian Rohrasch hatte an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten.

      Liebevoll tätschelte sie sein Gesicht und bedankte sich bei ihm für seine täglichen Besuche, die der einzige Lichtblick in ihrem sonst so trostlosen Dasein in diesem Heim gewesen seien.

      Erschüttert und überrascht war Balthasar Sebastian Rohrasch darüber. Überrascht deswegen, weil er nicht gedacht hätte, dass seine Mutter überhaupt noch etwas mitbekam, erschüttert deswegen, weil sie es mitbekam, aber es nicht mehr ausdrücken konnte. Am meisten schmerzte es ihn jedoch, dass sie ihre letzten Momente als trostlos beschrieb.

      Dieser traurige Umstand war das letzte Puzzlestückchen, das ihm zu seiner Entscheidung noch gefehlt hatte.

      Balthasar Sebastian Rohrasch unterschrieb die Übernahmepapiere und trat als neuer Heimleiter in ein fast morbides Unternehmen ein, dessen Bestand ebenfalls recht angeschlagen war. Unsicher war er, wie lange er diese Leutchen bei sich halten konnte.

      Voller Tatendrang bugsierte er seinen Rechner in sein neues Büro und machte sich daran, sein selbst gestecktes Ziel zu erreichen. Er stellte einen neuen Arzt ein, neue Schwestern, die jedoch alle zuerst seinem Für und Wider standhalten mussten. Anschließend plante Balthasar Sebastian Rohrasch das Leben seiner Senioren, wie er es für seine Mutter getan hatte. Er schrieb ein Programm, mit dessen Hilfe St. Benedikta ein freudvolles Haus mit langer Verweildauer werden sollte.

      Mit 50 Jahren wähnte er sich am Ziel.

       4. Kapitel

      Gewissenhaft räumte Esther Friedrichsen ihr neues Teeschränkchen in ihrem neuen Zimmer, in ihrer neuen Bleibe ein. Ackerschachtelhalm unter A. Beifuß, Brennnessel unter B. Schluchzend hielt sie inne und nestelte nach ihrem Taschentuch. Ohne ihren Karli hier zu sein schmerzte sie. „Das überlebe ich nicht“, flüsterte sie und schniefte in ihr fliederfarbenes Tuch. Mühsam versuchte sie, ihre Tränen zurückzuhalten. Dass sie ihren letzten Lebensabschnitt alleine gehen musste, war schwer zu ertragen.

      „Natürlich werden Sie das!“, sagte eine flache Stimme hinter ihr. „Außer, Sie fallen auf der Stelle tot um.“

      Erschrocken drehte sich Esther um.

      In der Tür stand eine dünne alte Frau, aus deren Nase ein Schlauch ins Nirgendwo ihres Morgenrocks führte. Ihre fahle Haut wirkte wie Pergamentpapier, das über die Knochen gespannt war. Freundlich schaute die Dame Esther an und trat mühsam, einen Schritt vor den anderen setzend, ins Zimmer. Ihre Augen versprühten, trotz ihrer Gebrechlichkeit wahre Lebensfreude. Esther war beeindruckt und musste sogar lachen. „Das hoffe ich nicht, dass ich jetzt tot umfalle. Jetzt, wo ich gerade einräume.“

      „Sie werden sehen … schon bald …“ Um zu Atem zu kommen, machte die Frau eine Pause; sowohl im Gehen als auch im Sprechen. „Schon bald werden Sie sich hier … sehr wohl fühlen.“ Mit Esthers Hilfe, ließ sie sich kraftlos auf die braungeblümte Couch sinken. Sie stellte sich als Martha Scholz vor. 98 Jahre weile sie mittlerweile auf Erden, und wenn es nach dem Rohrasch geht, würden es hundert werden. Bedenklich wackelte ihr Kopf bei diesen Worten. „Sie trinken Tee?“, fragte sie unvermittelt mit einem Blick auf Esthers Kräutergläser.

      „Ja, ausschließlich. Und Wasser. Und Orangensaft. Und Kümmelschnaps nach dem Essen. Aber keinen Kaffee.“

      „Kaffee trinke ich auch nicht, eigentlich trinke ich gar nichts von alledem.“ Martha schob ihren Morgenrock beiseite und ließ Esther einen Beutel sehen, der mit dem Schlauch in ihrer Nase verbunden war. Das sei ihre Verbindung zum Leben, erklärte Martha in Seelenruhe. Durch die Demenz vergesse sie ständig das Essen und Trinken. Der Rohrasch tue aber alles, um sie auch den hundertsten Geburtstag noch feiern zu lassen. Manchmal freue sie sich darauf, aber manchmal auch nicht, gestand Martha.

      Esther fiel es schwer, den Blick von dem Beutel, der mit milchigtrüben, fast braunem Brei gefüllt war, abzuwenden. Mitfühlend vergaß sie bei diesem Anblick sogar ihren eigenen Kummer. Betroffen sank sie neben Martha auf die Couch. Dass man das Essen vergessen konnte, war für Esther eine erschreckende Vorstellung, wo sie doch so gerne aß.

      „Ist es denn nicht schrecklich, die Selbstverständlichkeiten des Lebens zu vergessen?“, fragte Esther unverblümt. „Wenn ich in Ihre Augen sehe, machen Sie nicht den Eindruck, als hätten Sie je das Leben vergessen.“

      „Heute so, morgen so. Aber keine Sorge!“, wackelte Martha mit ihrem Kopf, „heute ist ein guter Tag. Meine Erinnerungen an gestern sind zwar weg, aber dann waren sie auch nicht so wichtig. Die Lücke kann ich mit den heutigen Erlebnissen füllen.“

      „Mit welcher Gelassenheit Sie das sagen! Dabei hätten Sie doch allen Grund, zu klagen“, meinte Esther einfühlsam.

      „Ach Kindchen!“, dabei tätschelte Martha Esthers Hand, „man muss mit dem arbeiten, was einem das Leben beschert.“

      Das klang so weise, fand Esther und nahm sich vor, diesen Spruch nie zu vergessen.

      In den folgenden Wochen und Monaten besuchte Esther Friedrichsen die Dame, die mit ihrem Schicksal so klaglos umging, regelmäßig. Manchmal ging es gut, manchmal aber auch nicht. Wenn es gut ging, lachten sie gemeinsam, wenn nicht, kauerte Martha vor dem Fenster auf einem Stuhl und konnte sich nicht erinnern, dass sie Esther überhaupt kennengelernt hatte.

      Doch dann kam der Tag, an dem der tapferen Martha Scholz, trotz ihres Willens, die Kraft ausging. Sie fragte Esther, ob in ihrem Kräuterschränkchen nicht etwas sei, was Erleichterung verschaffen würde. 99 Jahre seien doch wirklich genug, oder etwa nicht?

      Zaghaft nickte Esther und hoffte, dass dies nun nicht allzu pietätlos sei.

      „Nein Kindchen, … das war es nicht“, beruhigte Martha schwach. „Würdelos … wäre es, wenn ein weiterer Apparat mich, … zum Weiterleben zwingen würde.“ Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. „Und solange ich noch in irgendeinem Herzen ein Plätzchen habe, weile ich doch auch nach meinem 100ten auf Erden.“

      Esther versprach, solange sie lebe, werde Martha ebenfalls leben, in ihrem Herzen.

      Es war ein Donnerstag, als Esther Friedrichsen die tapfere Frau ein letztes Mal besuchte.

      Wie versprochen, besuchte sie regelmäßig, immer montags, das Grab von Martha Scholz. An ihrem hundertsten Geburtstag brachte Esther Kuchen mit und zündete ein extra Licht an.

       5. Kapitel

      Wie Säulen standen die Kastanien rechts und links neben dem Haus. Pflichtbewusst kehrte der Hausmeister herabfallende Blätter zusammen. Er rieb sich den Kopf, als eine Kastanie herabplumpste.

      Esther Friedrichsen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nicht ungefährlich, der Herbst!

      Einen Moment lang