Monika Clayton

TEE macht tot


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weiterhin so blieb, kam die rollende Friseurmeisterin Helena Jakubitsch mit ihrem Koffer voller Wickler, Kämmen und Scheren eigens ins Haus.

      Esther Friedrichsen plauderte gerne mit Helena; diese war aufgrund ihrer polnischen Herkunft zwar sprachlich etwas unsicher, dafür aber umso herzlicher und was noch wichtiger war, diskret. Vertrauten ihr doch viele Menschen ihre kleineren und größeren Geheimnisse an, die es sicher zu verwahren galt. Esthers Hilfsbereitschaft, für jedes Zipperlein das passende Kraut zuzubereiten, kannte sie ebenfalls. Gerne ließ sich Helena auch die eine oder andere Teemischung servieren, während sie Wickler um Wickler in das graue Haar ihrer alten Kundin drehte. Nur von dem Donnerstagstee hielt sie verständlicherweise Abstand.

      So wichtig wie Esther ihre Beichtfrisur war, so wichtig war ihr aber auch ihr mittwöchlicher Teeabend, den sie ebenfalls regelmäßig im Gemeinschaftsraum des dritten Stockes abhielt, und gleichermaßen der Dienstagskurs um 15:30 Uhr. „Qi Gong im Alter“ war eine Leibesertüchtigung mit dem erklärten Ziel, Körper und Geist in Einklang zu bringen. Was half denn ein fitter Geist, wenn die Hände oder die Beine, oder gar beides, nicht mehr ihre Arbeit verrichten wollten? Dagegen, was half ein fitter Körper, wenn man so senil war, dass der Löffel den Mund nicht mehr fand? Der Einklang von Körper und Geist hatte so seine Vorteile, wie Esther feststellte; dieser Vorteil mündete in einen anderen Vorteil, den sie gerne, ebenfalls regelmäßig, in der Seniorenwerkstatt im Keller von St. Benedikta auslebte. Immer am Freitagabend.

      Aus der Einheit von Körper und Geist entsprang die Kreativität, die dank ihres gesunden Körpers und des fitten Geistes so manch kunterbuntes Erzeugnis hervorbrachte, welches wiederum für den guten Zweck auf dem Seniorenflohmarkt angeboten wurde. Drei Mal jährlich wurde die Eingangshalle zu diesem Zweck mit Tischen bestückt. Immer in Viererreihen, da genügend Platz für eventuelle Notfälle freibleiben musste. Da ließ der Rohrasch keine Diskussionen zu. Dafür spendierte er aber ein Kuchenbuffet, das vom Starnberger Konditormeister R. Müller geliefert wurde und sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. An Nichtflohmarkttagen bekam man schließlich nur Kuchen, der mit weniger Zucker, mit weniger Sahne, mit weniger Glasur vom Küchenpersonal gezaubert wurde. Alles in allem nicht schlecht, aber was eine richtige Sahnetorte sein wollte, brauchte schon etwas mehr - von allem.

      Der Rohrasch wäre aber nicht der Rohrasch gewesen, wenn er die erhöhte Süßspeisenaufnahme nicht genau durchdacht hätte. Ein klein wenig mehr Zucker, und schon zückte der Senior seinen Geldbeutel deutlich lieber. Das eingenommene Geld wurde dann dem zur Verfügung gestellt, dessen finanzielle Mittel nicht ausreichten, um sich die kleinen medizinischen Freuden zu leisten, die man gerne hätte. Wer sich beispielsweise einen elektrischen Rollstuhl wünschte, dem aber die Krankenkasse nur einen mechanischen zur Verfügung stellen wollte, konnte damit den Eigenanteil eines elektrischen bezahlen.

      Balthasar Sebastian Rohrasch war der Meinung, dass sich gegenseitige Hilfe günstig auf das Miteinander auswirke. Das positive Glücksgefühl, das mit dieser Geste ausgelöst wurde, hatte wiederum Konsequenzen für die Verweildauer, die bekanntlich sein erklärtes Ziel war. Wer sich auch im Alter noch gebraucht fühlte, hatte eben bedeutend mehr Lebenswillen.

      Auf dem letzten Event dieser Art, dem ein Töpferkurs vorausgegangen war, hatte Esther Friedrichsen ihre Obstschale dem guten Zweck gestiftet. Die glich zwar eher einer Toilettenschüssel als einem Vitaminbehältnis, aber der gute Zweck lässt bekanntlich so manches durchgehen.

      Danach startete der Gipskurs. Den mochte sie fast noch lieber als den Töpferlehrgang. Letzte Woche hatte sie ihre faltige Hand zur Faust geballt und hiervon einen Abdruck gemacht. So wie sich das Esther in ihren schöpferischen Gedanken ausgearbeitet hatte, sollte diese Faust, wegen der hübschen Divergenz, einmal ein getrocknetes Lavendelsträußchen halten. Sein Duft verbreitete eine Stimmung von Gelassenheit und innerer Ausgeglichenheit, was so mancher durchaus vertragen konnte. Davon wollte sie insgesamt zehn Stück herstellen. So etwas würde sich sicherlich verkaufen, wie geschnitten Brot, glaubte sie.

      Besonders gespannt war Esther Friedrichsen aber auf den Abdruck von Lore Lotter. Deren massiger, von der Erdanziehung nicht unbedingt zum Vorteil profitierender Busen, hatte zu einem amüsanten, aber kontroversen Abend veranlasst.

      Esther Friedrichsen hatte sich bereiterklärt, Lore Lotter vom zweiten Stock dabei behilflich zu sein, Lage um Lage Gips aufzulegen. Entgegenkommend boten die Herren des Kurses ihre Hilfe beim Glätten des Gipses an.

      Darüber konnten die frigide Erna und die kupfergefärbte Christine vom ersten Stock jedoch nur den Kopf schütteln. Das frivole Verhalten von Lore Lotter war doch mehr als befremdlich. Peinlich berührt konnten sie aber dennoch den Blick von diesen bammelnden Dingern, nicht abwenden. Es war wie bei einem Unfall, der einem das schicksalhafte Elend schonungslos vor Augen führte.

      Lore ließ das Ganze jedoch kalt und Esther ebenfalls. Die fand, dass man auch mit 75 Jahren durchaus noch seine Reize zeigen durfte, wenn man sie denn hatte oder zu meinen glaubte, dass man sie noch hatte. Außerdem gehe es hier um Kunst, und Kunst liege ja immer im Auge des Betrachters.

      Die Herren hatten dem nichts hinzuzufügen, außer, dass damit bewiesen sei, dass Männer ein besseres Auge für Kunst hätten.

      So war ein regelmäßiger Tag nach dem anderen vergangen, und die schwierigste Jahreszeit für die Rentner war ins Land gezogen. Als Esther Friedrichsen um den Donnerstagstee gebeten wurde, lag ein milchiger Tag vor ihr, der sich auch bis zum Abend nicht bessern sollte.

      Sie stand an ihrem Fenster und beobachtete, wie der Schneeregen auf die Wiese platschte, um mit der Erde zu einer matschigen Brühe zu verschmelzen. Kurz öffnete sie die Fenster, um etwas frische Luft hereinzulassen. Von ihrem Fensterbrett, auf das sie im Winter Meisenknödel und Sonnenblumensamen auslegte, flog erschreckt ein Spatz davon. Das tat Esther leid. Ihn von seinem Futter vertreiben, das wollte sie ganz gewiss nicht. Aber, nachdem nun schon das Fenster geöffnet war, nahm sie ein paar kalte Atemzüge und schaute auf die Wiese. Schlafend lag sie unter einer weißbraunen Decke.

      Esther schloss das Fenster wieder und hinkte zu ihrem Kräuterschränkchen, um die Donnerstagsmischung vorzubereiten. Sie spürte ihr Bein, das bei diesem nassen Wetter stärker schmerzte.

      Ja. Der Winter konnte einem schon mächtig auf die Befindlichkeit schlagen. Das ständige Grau in Grau, die kurzen diesigen Tage und der seltene Sonnenschein ließen den ein oder anderen gerne mal vor Stumpfsinnigkeit sterben. Bei dem Gedanken musste Esther Friedrichsen schmunzeln. Während sie diese Zeit als das hinnahm was es war, nämlich die Zeit, in der der Mensch den Rückzug genauso wie die Natur, plante, fürchtete der Heimleiter Balthasar Sebastian Rohrasch den Winter wie der Teufel das Weihwasser. Brach dann die Schneeschmelze an, die seine Senioren wieder nach draußen lockte, verfiel er regelmäßig in einen Freudentaumel. Sicherlich würde er nicht erfreut sein zu hören, dass er diesen Winter wieder einmal unplanmäßig einen seiner Insassen verlor, aber davon wollte sich Esther Friedrichsen nicht beeinträchtigen lassen.

      Er tat das Seinige, um seinen Leutchen einen angenehmen Lebensabend zu bescheren, was er gut machte, wie sie fand, aber sie wollte das Ihrige tun, um den Senioren, die das wollten, den Auszug zu erleichtern.

       7. Kapitel

      Am Donnerstagabend, als Esther Friedrichsen aus Zimmer Nr. 18 trat und zu Zimmer Nummer 11 schlurfte, hatte sich ihre Nachbarschaft schon in ihre Zimmer zurückgezogen. Ihr schmerzendes Bein zog sie hinter sich her, was sie nicht sonderlich schnell vorwärtskommen ließ.

      „Hallo Maria“, begrüßte Esther die alte Dame im Bett, als sie endlich das Zimmer erreichte.

      „Esther, da bist du ja endlich!“ Ein mattes Lächeln ließ die Falten in dem eingefallenem Gesicht noch tiefer werden.

      „Entschuldige die Verspätung, aber du weißt ja …, meine Beine sind nicht mehr die flottesten.“

      „Ist es wieder so schlimm heute?“ Langsam drehte Maria Loibl ihren Kopf in Richtung Fenster. Der Wind hatte sich gedreht und ließ die matschigen Flocken nun gegen die Scheibe klatschen. „Ja, ja, das Wetter kann einem schon ganz schön zusetzten“, fuhr sie fort. Mit müden Augen blickte sie Esther an. „Möchtest du es lieber verschieben?“