Monika Clayton

TEE macht tot


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Sebastian Rohrasch hatte es mittlerweile aufgegeben, durch die Reihen seiner Senioren zu gehen, um die Geräte wieder auf Empfang zu stellen. Es war ihm inzwischen auch egal, wie laut sich seine Schützlinge anschrien, er aß sowieso in seinem Büro, tippte nebenbei irgendwelche Zahlen in seine Statistiken ein, und das Personal verrichtete mit Ohropax seine Arbeit in friedlicher Stille.

      Endlich bekam auch die gemütlich korpulente Esther Friedrichsen ihr Essen serviert. Fleisch, Kartoffeln und Spinat gab es, was Esthers Herz erfreute. Gegen Spinat hatte sie nichts einzuwenden, gegen Kartoffeln ebenfalls nicht und gegen ein saftiges Stück Fleisch, das ruhig etwas größer hätte sein können, sowieso nicht. Doch niemals mehr nahm sie sich vor, würde sie nach dem Essen anderer greifen. Lieber wollte sie vor Hunger vom Tisch fallen.

      Esther nahm sich den Salzstreuer, der in der Mitte des Tisches stand, und ließ eine ordentliche Ladung über ihre Essen rieseln, als sie unversehens angesprochen wurde.

       10. Kapitel

      „Würden Sie ihr bitte das Salz weiterreichen?“

      Esther Friedrichsen sah von ihrem Teller auf und blickte mit Fragezeichen in das ihr unbekannte Gesicht.

      Gegenüber von ihr hatte sich eine Dame niedergelassen, auf deren wohlfrisiertem blonden Haar ein Hut saß, dessen Ausmaß dem einer Bahnhofsuhr gleichkam. Wobei niedergelassen, nicht ganz richtig war, sie hatte lediglich ihren Rollstuhl zwischen zwei Stühle gezwängt.

      Unschlüssig hielt Esther Friedrichsen den Salzstreuer in die Höhe. Abwartend blieb ihre Hand in der Mitte des Tisches stehen.

      „Ein Mahl ohne Salz ist wie Kartoffelsuppe ohne Speck.“ Dankend streckte die Dame ebenfalls ihre Hand zur Tischmitte und nahm Esther den Gewürzstreuer ab.

      „Sie werden sich hier an Kartoffelsuppe mit Würstl gewöhnen müssen“, entschied Esther, gleich mit dem Unvermeidlichen herauszurücken. „Speck gibt’s nur am Sonntag, aber sonntags gibt es keine Kartoffelsuppe. Kartoffelgerichte servieren sie prinzipiell nur montags, während mittwochs Mehlspeisen gereicht werden und freitags Fisch“, führte Esther den Essensplan wahrheitsgemäß weiter aus und blickte ihr Gegenüber musternd an. Obwohl sie im Rollstuhl saß, konnte Esther Friedrichsen erkennen, dass es eine große Frau war, die für sich in der dritten Person nach Salz gefragt hatte. Wenn sie stehen könnte, wäre sie sicherlich um einen ganzen Kopf größer, wahrscheinlich auch um die Hälfte schlanker. Alles in allem schätzte sie diese Dame etwas exzentrisch ein, was Esther aber keinesfalls abwertend meinte. Nein, im Gegenteil, sie war allem und jedem gegenüber sehr aufgeschlossen. Und solange sie nicht in ihrem Tagesablauf gestört wurde, war ihr jeder neue Gesprächspartner willkommen.

      „Nun, dann wird sie an Kartoffelsuppentagen wohl ihren eigenen Speck mitbringen müssen“, durchbrach die Frau Esthers Blick, der unentwegt auf ihrem großen Hut ruhte. Gekonnt zog sie eine riesige Nadel aus ihrem Kopf und legte ihren Kopfbedeckung auf ihren Schoß.

      Esther musste neidlos feststellen, dass bei der Dame nicht ein graues Haar zu erkennen war. Beachtlich, wenn man bedachte, dass sie hier in einem Altersheim saßen.

      Nachdem sich die Dame fast die gleiche Menge Salz wie Esther über ihr Essen gestreut hatte, platzierte sie den Salzstreuer wieder in der Mitte des Tisches und nahm ihr Besteck auf. Das amüsierte Esther Friedrichsen, was der Dame mit dem großen Hut auf dem Schoß nicht entging. Sie legte Messer und Gabel wieder beiseite und blickte sie an. „Darf sie sich vorstellen, ihr Name ist Ingrid van Brekelkam“, reichte sie ihre Hand über den Tisch.

      Esther Friedrichsen legte ebenfalls ihr Besteck beiseite und ergriff zögernd die Hand der Anderen. „Ihr Name ist also Ingrid van Brekelkam“, wiederholte Esther.

      „Genau. Sie freut sich, Sie kennenzulernen.“

      Höflich stellte sich Esther Friedrichsen ebenfalls vor und prüfte etwas verlegen den Sitz ihrer gelegten Locken. Grau waren sie, so grau wie ein altes Taubennest. Sie spähte den Tisch hinauf und hinunter, doch keiner von den anderen schien etwas von dem Gespräch mitzubekommen.

      „Sagen Sie mal!“, fragte Esther und beugte sich etwas vor, „reden Sie denn immer so putzig?“ Unterdessen nahm sie ihr Besteck wieder auf und schob sich eine Kartoffel auf die Gabel. Bei aller Verwunderung durfte man sein Mahl nicht deswegen erkalten lassen.

      „Sie sind sehr freundlich, denn putzig wurde ihre Sprache noch nie genannt“, vergnügte sich Ingrid van Brekelkam darüber. „Aber ja, das tut sie.“ Man möge ihr die seltsame Ausdruckweise doch bitte entschuldigen, erklärte sie weiter, denn dafür läge ein einfacher Grund zu Grunde, und wenn es Esther interessierte, dann könne sie das gerne erläutern.

      Esther Friedrichsen blickte kauend von ihrem Teller auf und packte ein weiteres Mal ihr Besteck zur Seite. Sicher interessierte sie sich dafür, warum ihr Gegenüber so putzig sprach, deshalb lud sie die Neue nach der Mahlzeit zu sich aufs Zimmer ein. Nach dem Essen genehmige sie sich gerne mal den ein oder anderen Kümmelschnaps, erklärte sie augenzwinkernd, den sie hinter verschlossener Tür auch selbst ansetzte. Wenn Ingrid also wolle, könne sie liebend gerne einen Kurzen mittrinken, wozu Ingrid van Brekelkam nicht Nein sagte. Und so nahm jede wieder ihr Besteck auf, um sich weiter dem Mahl zu widmen.

      Nach einer weiteren Nachsalzung ihrer Speisen, über dessen Gedankenlosigkeit sie sich köstlich amüsierten, verließen sie gemeinsam den Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss, und fuhren mit dem Lift in den dritten Stock hinauf.

      „Einen schönen Hut haben Sie!“, lobte Esther Friedrichsen, um wenigstens irgendetwas zu äußern.

      „Vielen Dank“, antwortete Ingrid van Brekelkam höflich.

      „Haben Sie den schon lange?“

      „Ja, den hat sie schon sehr lange.“

      Dann war das Hutgespräch beendet, da man im Dritten angekommen war. Esther war Ingrid dabei behilflich, ihren Rollstuhl über die Aufzugschwelle zu rollen und schlurfte neben ihr her.

      Schnell war Ingrid trotz ihrer Räder nicht. Dafür waren ihre Arme im Laufe der Jahre schon viel zu müde geworden. Da Esther aber selbst nicht allzu flink unterwegs war, passte das ganz gut.

      Vor Zimmer Nummer 6 blieb Ingrid van Brekelkam stehen und setzte Esther davon in Kenntnis, dass sie schon vorgehen könne. „Sie holt nur noch kurz ihren Krambambuli.“ Und damit rollte sie in ihr Zimmer. Ihr Eau de Parfum hing noch schwer in der Luft, als Esther Friedrichsen sich erneut wunderte. Nachdenklich blieb sie im Flur des dritten Stockes stehen. Was war ein Krambambuli, überlegte sie. Sie schüttelte ihren Kopf und tappte weiter bis zu ihrer Zimmertür. Sie würde es ja gleich erfahren. Sie betrat ihr Zimmer, das prinzipiell den anderen glich. Alle waren gleich groß, nur manche waren etwas größer, je nachdem, ob man alleine oder mit dem Partner darin lebte. Lediglich die Aussicht veränderte sich. Die variierte, je nachdem, ob man auf der rechten Seite oder der linken Seite des Ganges wohnte. Bei den Zimmern auf der linken Seite hatte man Aussicht auf den großzügig angelegten Park mit den herrlichen Wiesen, die sich bis in den Wald hinein erstreckten. Die Zimmer der rechten Seite konnten dagegen mit der Aussicht auf den Besucherparkplatz und den auf der anderen Straßenseite befindlichen Friedhof samt Kapelle überzeugen. Gerade bei den neugierigeren Bewohnern war diese Seite äußerst beliebt.

      Einige Minuten später rollte Ingrid van Brekelkam über Esthers Türschwelle; auf ihrem Schoß lag ein kleiner Hund. Mit matten Augen schaute er Esther kurz an und rollte sich auf dem Schoß seines Frauchens ein.

      Esther Friedrichsen nahm an, dass der Hund sicherlich schon sehr alt war.

      Ja, das sei er, gab Ingrid ihr recht. Mit seinen 13 Jahren und drei Monaten sei er sogar sehr alt. Umgerechnet in Menschenjahre war er inzwischen 91 Jahre und 9 Monate, also fast 92 Jahre alt, was ja schon ein beachtliches Alter für so ein kleines Wesen war.

      Liebevoll streichelte Esther Friedrichsen über das zerzauste Fell des kleinen Hundes. Unbeeindruckt schlief er weiter.

      Berührungsresistent sei er im Laufe seiner vielen Jahre geworden, erklärte Ingrid seine ruhende Teilnahmslosigkeit.