Monika Clayton

TEE macht tot


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um ein Stelldichein gebeten. Einen Augenblick lang sah Esther Lenni verhalten an.

      Mit wieherndem Hallo trat in diesem Augenblick die immer laute und hektische Frau Teifler an den Tisch. Höflich wurde zurückgeschrien.

      Für Esther kam dieser Moment äußerst gelegen. Niemand achtete gerade auf sein Frühstück, weshalb Esther kurzerhand und ungefragt in das Brotkörbchen griff, das neben dem Teller von Elisabeth Schirner stand. Die merkte es nicht.

      Herzhaft biss Esther Friedrichsen in die dritte Semmel und ließ sie sich schmecken. Würde sie öfter ihr Frühstück verspätet einnehmen müssen, überlegte sich Esther, während sie sich endlich gesättigt fühlte, wäre sie in kürzester Zeit doppelt so dick. Das würde dem Dr. Liebherr sicherlich nicht gefallen und dem Rohrasch sowieso nicht. Sorgfältig wischte sie mit ihrer Serviette die Spuren des gestohlenen Mahls aus ihrem Gesicht und ging dann wie gewohnt ihrem Tagesablauf nach.

      In ihrem Zimmer kleidete sie sich, der Jahreszeit entsprechend, um. Die braune Cordhose ließ ihre Hüften noch etwas rundlicher hervortreten, was Esther aber herzlich wenig interessierte, denn Misswahlen wurden in St. Benedikta nie abgehalten. Nachdem sie sich noch in einen fliederfarbenen Wollpullover gezwängt hatte, zog sie Mantel, Mütze und Schal an. Sie griff nach ihrem Schirm, der stets hinter der Zimmertür an der Garderobe hing, und machte sich auf den Weg zum montäglichen Friedhofsbesuch. Sicherlich warteten ihre ehemaligen Teetrinker schon auf sie. Wenn sie also zum Mittagessen pünktlich sein wollte, musste sie sich wirklich sputen.

      Klirrend war die Kälte, als sie nach draußen trat. Dicke weiße Schneeflocken trieben in ihr Gesicht. Der kleine Hausmeister, der sonst auf seinem Bohnerwagen saß und den Linoleumboden auf Hochglanz brachte, hockte auf seinem Schneeräumer und schaufelte den Schnee vor sich her, während hinten Streusalz das Eis zum Schmelzen brachte.

      Unter Zuhilfenahme ihres Schirmes verließ Esther das Gelände. Mit eingezogenem Kopf überquerte sie die Straße, an deren Seiten der öffentliche Winterdienst schon eine Schneemauer errichtet hatte − aber nicht allzu hoch, vielleicht 10 cm. Mühelos stieg Esther Friedrichsen darüber hinweg und betrat den Bürgersteig auf der Friedhofsseite.

      Mit eineinhalbstündiger Verspätung stand sie endlich vor dem ersten Grab. Normalerweise begann sie ihren Rundgang immer schon um 9:30 Uhr, doch Esther wollte es mit ihrem Ärger für heute gut sein lassen. Des Anstands wegen entschuldigte sich aber dennoch für die heutige Unpünktlichkeit und ebenfalls dafür, dass sie heute nicht so viel Zeit für das übliche Schwätzchen hatte. Das tat sie ebenso an weiteren fünf Gräbern. Bei ihrem nächsten Besuch wäre wohl auch die Loibl dabei, überlegte sie.

      Soweit ihre Teetrinker das nicht von dem Ort, an dem sie weilten, selbst sehen konnten, erzählte Esther ihnen von den Neuerungen, die der Rohrasch einführte, berichtete von den Neuzugängen oder sie erzählte einfach von allgemeinen Dingen, die ihre Teetrinker zwar nicht mehr betrafen, aber vielleicht doch von Interesse waren. Danach verabschiedete sie sich mit dem Versprechen, den nächsten Montag wieder zu kommen, dann wieder pünktlich.

      Die Kälte, die ihr durch den Aufenthalt auf dem Friedhof in die Glieder gekrochen war, ließ sie etwas steif den Rückweg nehmen. Sorgsam achtete sie auf ihre Schritte und trat auf den Bürgersteig, blieb stehen und schaute sich nach Autos um. Als sie die Scheinwerfer des fürchterlich großen Schneeräumers kommen sah, überlegte Esther, ob sie es noch hinüberschaffen konnte, blieb aber der Sicherheit wegen doch lieber stehen.

      Das war auch gut so, denn schnell kam der Schneeräumer näher und schaffte es mit seiner Fahrt, die Schneemauer auf weitere 20 cm anwachsen zu lassen. Fröhlich pfeifend sah der Fahrer auf sie herunter, als er vorbeifuhr.

      Eigentlich wollte sich Esther Friedrichsen heute nicht mehr ärgern, aber jetzt blieb ihr fast nichts anderes mehr übrig.

      „Nur gut“, sprach sie säuerlich, „dass ich immer meinen Schirm dabei habe!“ Den Regenschirm als Kletterhilfe benutzend, stieg sie über die Schneemauer und blieb mitten auf der Straße stehen. Drohend schwenkte sie ihren Allzweckschirm. „Das nächste Mal warten Sie mit dem Räumen, bis die Leute über der Straße sind!“, rief sie dem unverschämten Mann hinterher. Der fuhr, ohne sie zu registrieren, weiter.

      „Was er wohl dazu sagen würde, wenn ich ihm den Schnee einfach wieder auf die Straße kippe?“, schimpfte sie vor sich hin und schubste mit der Schirmspitze den gröbsten Schnee von ihren Stiefeln. Ach dieser Tag brachte sie auf seltsame Einfälle. Doch so schnell wie die Entrüstung kam, so rasch war sie wieder verschwunden. Der arme Mann tat doch nur seine Arbeit, schalt sie ihre schlimmen Worte. Außerdem war sie sich darüber im Klaren, dass ihr Schirm zwar viel konnte, aber Schneeschippen ließ sich damit nun wirklich nicht. Also stiefelte sie weiter und erklomm die Schneemauer auf der anderen Seite. Ohne weitere Zwischenfälle passierte sie das Tor zu St. Benedikta und mühte sich die Auffahrt hoch.

      Fast hatte sie den Eingang erreicht, als sich ihre Schritte ein weiteres Mal verlangsamten. Sorgenvoll dachte sie an Elisabeth Schirner. Gleich würde man am Tisch wieder zusammensitzen, was Esther mulmig werden ließ. „Das hätte ich mit meinen Teetrinkern noch besprechen sollen“, redete sie wieder vor sich hin. Wie sollte sie bloß reagieren, falls sie auf den Brötchenklau angesprochen wurde? Sollte sie es empört abstreiten oder die Wahrheit sagen? Das schlechte Gewissen nagte sehr an ihr.

      Zögerlich betrat Esther den Speisesaal, nachdem sie sich ihres Mantels entledigt hatte. Der Raum war in schlichtem Weiß gehalten, wirkte aber durch die vielen an der Wand hängenden bunten Bilder sehr lebhaft. Den Boden zierten Terrakottafliesen, was den Senioren das Flair des Südens nahe bringen sollte. Angesichts des Spaßes, den sie hier hatten, tat es dies auch. Für jedes der Stockwerke stand eine lange Tafel zur Verfügung, an der jeder Bewohner seinen gewohnten Platz hatte. Wenn man wollte, durfte man natürlich die Plätze untereinander tauschen, um auch mal mit anderen ins Gespräch zu kommen. Wollte man aber nicht allzu oft, schließlich war den Senioren die Routine in ihren Unterhaltungen wichtig.

      So langsam wie möglich schritt Esther Friedrichsen auf ihren Tisch zu. Im Moment konnte sie sich von der allgemeinen guten Laune jedoch nicht anstecken lassen. Angespannt wartete Esther die Reaktionen ab. Doch entgegen all ihren Befürchtungen wurde sie freundlich begrüßt und nach dem Befinden ihrer Teetrinker befragt.

      Esther antwortete wahrheitsgemäß, dass es ihnen gut ginge und dass sie, wie nicht anders zu erwarten, halt so herumlagen.

      Elisabeth Schirner lachte herzlich darüber; nichts deutete darauf hin, dass sie sich über irgendetwas echauffieren würde. Danach vertiefte sie sich wieder in eine Unterhaltung.

      Ob sie es vielleicht gar nicht bemerkt hatte, überlegte Esther. Vielleicht verdächtigte sie aber auch jemand Anderen? Nein, das wäre ihr aber unangenehm. Esther beschloss, erst einmal abzuwarten. Sollte jemand ungerechtfertigterweise des Diebstahls bezichtigt werden, würde sie sich auf jeden Fall stellen. So viel Anstand musste sein.

      Esther nahm ihren Platz ein und lauschte den Gesprächen. Niemand wurde verdächtigt; überhaupt war das Thema Brötchenraub kein Thema. Erleichtert war sie darüber, aber nichtsdestotrotz, beichten musste sie das beim Pfarrer schon.

      Die ersten Essen wurden an die Tische gebracht. Mit Essenswagen bewaffnet lieferten sich die Küchenhilfen ein Servierduell. Wer den ersten Tisch vollständig beliefert hatte, musste nicht durchs Haus eilen und den Leutchen, die ihr Zimmer nicht verließen oder verlassen konnten, das Essen bringen.

      Fröhlich klapperte das Besteck drauflos. Und hatte man gedacht, dass es bei Tisch der Senioren leise und kultiviert zuging, täuschte man sich. Sehr sogar!

      Die illustre Gesellschaft stand der Art und Weise, wie Jugendliche ihre Nachmittagsaktivitäten in der Mensa besprachen, in nichts nach. Das Geschnatter quer über den Tisch ließ direkte Sitznachbarn die Stimme ebenfalls erheben. Und so hatte man es mit einem Höllenlärm zu tun, der dem einen oder anderen schon mal auf die Ohren schlug. Deshalb schalteten einige ihr Hörgerät auf Minimum, was zwangsweise die eigene Stimme etwas lauter werden ließ.

      Nun besagte die Hausordnung zwar eindeutig, dass jedes Gespräch in Zimmerlautstärke zu führen sei, nur wie sollte man dieser Anweisung nachkommen, wenn