Monika Clayton

TEE macht tot


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      Maria Loibl sah Esther dankbar dabei zu, wie sie das Teewasser aufsetzte und sieben bis zehn Blüten der Leichenblume in eine Tasse legte. Gerade der Samen war für den Donnerstagstee sehr wichtig. Darüber ließ sie weitere Kräuter rieseln und goss diese mit dem heiß gewordenen Wasser auf. Der würzige Duft von Pfefferminz überdeckte den grasartigen Geruch der Leichenblume fast vollständig, und den bitteren Geschmack milderte Esther durch sechs Kandiszucker. Die ordentliche Gabe von Kamille, die Esther Friedrichsen ebenfalls beimengte, entspannte den Bauch, was bei einer Vergiftung durchaus von Vorteil war.

      Der Aufguss war stark, das musste Esther Friedrichsen zugeben, aber dafür umso wirkungsvoller. Wie immer hatte sie, als sie um den Tee gebeten wurde, daran nichts Verwerfliches finden können. Wenn man, wie die Loibl, mit 93 Jahren des Lebens überdrüssig war und sich endlich in Frieden hinlegen wollte, konnte man doch etwas nachbarschaftliche Hilfe erwarten.

      Ihr Jubiläum, zehn Jahre Altenheim, hatte die alte Dame eben nicht vor zu feiern, denn im letzten halben Jahr hatte das Alter seinen Tribut gefordert. Und so traten, trotz bester Fürsorge, unterschiedlichste Zipperlein in gehäuftem Ausmaß auf. Ihre alten Glieder wollten einfach nicht mehr, weshalb sie auch kaum das Bett verlassen konnte. Der Urinbeutel war der Loibl zutiefst peinlich, und die täglichen Waschungen ihres Körpers widerstrebten ihr. Sicherlich, es war nichts, wegen dessen man unbedingt starb, aber, und das war der entscheidende Punkt, sie konnte ihre Entscheidung noch selbst treffen. Und solange sie das noch konnte, wollte sie dies auch selbst tun. Es gab nun mal eine Zeit des Lebens und eine Zeit des Sterbens, und letztere war ihrer Meinung nach jetzt angebrochen. Dagegen konnte auch ein Rohrasch nichts unternehmen.

      In kleinen Zügen trank die Loibl den von Esther zubereiteten Tee. Dankbar nahm sie einen Schluck nach dem anderen. Anschließend legte sie ihren Kopf ins Kissen zurück und wartete. Ein seltsames Hochgefühl erfasste sie. Es war getan! Nach 93 Jahren hier auf Erden, in denen sie viel gesehen, erlebt und überwunden hatte, freute sie sich jetzt auf die ihr bevorstehende Unendlichkeit.

      Esther Friedrichsen setzte sich zu ihr ans Bett und hielt noch ein Pläuschchen.

      „Du bist eine wahre Freundin“, ächzte die Loibl in ihren letzten Momenten.

      „Ach, nicht der Rede wert!“, bedankte sich Esther für die netten Worte. „Wer, wenn nicht du, hat es verdient, in Frieden gehen zu dürfen?“ Ein schlechtes Gewissen hatte Esther Friedrichsen nicht. Für ihre Hilfsbereitschaft, die Loibl in die Hände Gottes zu übergeben, gab es keinen Grund, sich zu schämen.

      Für manch einen wäre es freilich kein schöner Anblick gewesen, hatte die alte Loibl dann doch so einige Mühe mit dem Sterben gehabt. Es zwickte und zwackte etwas in ihrem Bauch, aber dank der Kamille war es nicht allzu schlimm. Als es schließlich vorbei war, lag sie fast schon lächelnd in ihrem Bett.

      Fürsorglich nahm Esther Friedrichsen der Loibl die Tasse ab, schüttete den Rest in das Waschbecken, wusch sie sorgfältig aus und verstaute diese in der Tasche ihres fliederfarbenen Morgenrocks. Danach verabschiedete sie sich von der Loibl und versprach ihr, regelmäßig auf ihrem Grab Blumen abzulegen. Jeden Montag. Außer im Winter, da wuchsen bekanntlich keine Blumen auf der Wiese, aber ein Lichtlein würde sie immer anzünden.

      Gemächlichen Schrittes trat Esther Friedrichsen auf den Gang hinaus und machte sich auf den Weg zurück in ihr Zimmer, um ihrer wohlverdienten Nachtruhe nachzukommen.

       8. Kapitel

      Mit der Loibl war nun auch die letzte Seniorin verstorben, die Balthasar Sebastian Rohrasch vom Stulp übernommen hatte. Nachdenklich legte er seinen Kopf auf seine Schreibtischplatte und starrte einfach vor sich hin. Es würde zwar keine Auswirkungen auf seine Todesstatistik haben, dennoch wurmte es ihn gewaltig, sie verloren zu haben. Mit dem Sterben hätte sie sich ruhig noch zwei Monate Zeit lassen können, dachte er verdrossen, dann hätte ihre Verweildauer mit zehn Jahren zu den längsten gezählt. Sie hatte doch außer ihrem vorzeigbarem Alter nichts, weswegen man sterben musste. Über ihr plötzliches Dahinscheiden war er also mehr als überrascht.

      Ruckartig richtete er sich wieder auf. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ruckelte seine Brille wieder in Position. Angestrengtes Nachdenken brachte ihn immer zum Schwitzen. Grüblerisch starrte er auf seinen Bildschirm. Klickte hier und klickte da, doch der Algorithmus seines Computerprogramms lieferte ihm keinerlei Hinweise darauf, dass er mit so etwas hätte rechnen müssen. Aber irgendwo in seinem Programm musste ein Fehler liegen, da war er sich sicher.

      Denk nach Rohrasch, denk nach!, ermunterte er sich selbst. Einige Mausklicks später hatte er auf dem Bildschirm, was er gesucht hatte. Die Gesundheitsberichte seiner Leutchen waren, bei einigen zumindest, doch sehr veraltet. Bei der Loibl war der werte Herr Doktor vor vier Wochen das letzte Mal gewesen. Sicher, Margot, die Stationsschwester hatte täglich Puls und Blutdruck gemessen, aber das war ganz offensichtlich nicht ausreichend genug gewesen.

      Ein kurzes Gespräch mit dem Arzt, und schon war seine Idee beschlossene Sache: Balthasar Sebastian Rohrasch brauchte ganz dringend einen aktuellen Gesundheitsbericht; aller seiner Bewohner. Mal sehen, was sein Algorithmus über den einen oder anderen so ausspuckte!

      Er ordnete also einen allgemeinen gesundheitlichen Vorsorgecheck an. Ab sofort sollten die Tage im Zeichen Konstitution im Alter stehen. Ungeachtet dass Wochenende war, bekam jeder der Senioren seinen Termin genannt.

      Esthers Termin fiel auf den Montag, genau auf den Zeitpunkt, als das Frühstück anstand, was ungemein irritierend für sie war. Da sie nur ungern von ihrem geregelten Leben abwich, störte es sie natürlich, dass sie dadurch ihre zwei mit Aprikosenmarmelade bestrichenen Semmeln verspätet genießen musste. Jeden Morgen aß Esther Friedrichsen diese, immer um dieselbe Uhrzeit. Sie hatte noch nie ein Frühstück, den Mittagstisch oder das Abendessen versäumt. Und das hatte sie vor, auch weiterhin so beizubehalten.

      Außerdem musste sie montags auch zu den Gräbern. Ihr ganzer Zeitplan würde durch Rohraschs Übereifer durcheinandergebracht werden. Um bis zum Mittagessen ihre Termine erledigt zu haben, müsste sie sich schon sehr sputen. Ob sie das schaffen würde?

      Sie beschloss, das Büro vom Rohrasch aufzusuchen. Er musste einsehen, dass er nicht so einfach in ihren Tagesplan eingreifen konnte. Schließlich machte sie ihre Tagespläne, um sich auch daran zu halten. Ansonsten bräuchte sie doch keinen Plan. Dann könnte sie aufs Geratewohl in den Tag hineinleben, was ihr aber schon rein gedanklich missfiel.

      ****

      Energisch klopfte es an Rohraschs Tür, was er allerdings nur im Hintergrund seiner Konzentration auf seinen Bildschirm mitbekam. Gedankenversunken rief er: „Herein!“, ohne sich jedoch der eintretenden Person zuzuwenden. Die ersten Arztberichte mussten schnellstmöglich in die Statistik eingepflegt werden.

      Bei Frau Winter im ersten Stock ließ ihn ein kleines Blasenproblem die Stirn runzeln. Wenn hier nicht sorgfältig darauf geachtet wurde, dass sie nicht ohne Kissen auf der Bank im Garten saß, konnte sich daraus eine richtiggehende Entzündung entwickeln. Auf einen externen Zettel schrieb er die Anweisung, Frau Winter, wenn sie sich im Park aufhielt, nicht aus den Augen zu lassen.

      Bei Herrn Karl war die Sache schon etwas problematischer. Trotz regelmäßiger Untersuchungen, hatte die nun unplanmäßige Untersuchung, einen Anstieg seiner Insulinwerte zu Tage gebracht, was nur bedeuten konnte, dass er sich nicht an seinen Ernährungsplan hielt. In der Anweisung für das Personal stand: Zimmerdurchsuchung. Besonderes Augenmerk auf ihn, während der Essenszeiten!

      Ferner: Beobachtung während des Gemeinschaftstages. Außerdem: Bewegung, Bewegung, Bewegung!

      „Mein Termin muss verschoben werden!“, hüstelte ihn eine alte Frau, um Aufmerksamkeit heischend, an.

      Verwundert sah er kurz nach oben. „Wer sind Sie?“, fragte er knapp und hackte weiter schonungslos in seine Tastatur.

      „Esther Friedrichsen aus dem dritten Stock.“

      „Aha. Und um welchen Termin geht es?“

      Esther Friedrichsen verdrehte