Monika Clayton

TEE macht tot


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Den hatte sie immer dabei, wenn sie das Haus verließ. Nicht nur wegen des Vorteils, weil er bei Regen zu schützen vermochte, sondern auch deswegen, weil er bei zu viel Sonne ausreichend Schatten spendete. Außerdem ließ er sich prima als Spazierstock verwenden. Mit dem Schirm konnte sie zudem auf der großen Wiese, die sich hinter St. Benedikta bis in den Wald hinein erstreckte, das Gras auseinanderdrücken, ohne sich bücken zu müssen.

      Gemächlichen Schrittes schlenderte sie die Zufahrt entlang, vorbei an den Parklätzen bis zum Haupttor. Dort bog sie an der wenig befahrenen Straße rechts ab und hatte von da, nur noch ein kleines Stück zurückzulegen. Bald hatte sie den kleinen Feldweg erreicht, der sich parallel zur Grundstücksmauer entlangschlängelte und sie bis zu der Wiese führte. Immer mittwochs, während des Vormittags, kam sie hierher, sofern es das Wetter erlaubte.

      Am Morgen, als sie aus ihrem Fenster schaute, hatte es zwar noch trüb ausgesehen, doch nun hatte die Sonne die Überhand gewinnen können. Jetzt vertrieb sie übrig gebliebene Nebelschwaden; sanft blies der Wind um Esthers Nase.

      „Nun denn!“, sprach sie zu sich, als sie die Stelle, zu der sie wollte, erreicht hatte. Ein lilafarbener Blütenteppich breitete sich vor ihr aus, der auch allerlei Getier angezogen hatte.

      „Husch, husch!“, scheuchte sie mit ihrem Schirm ein paar Bienen von den Blütenköpfen. Mit ihren mit Blütenstaub beladenen Beinchen flogen sie davon. Ein Lächeln huschte über Esthers pausbäckiges Gesicht, dann beugte sich ihr müder Rücken hinab, und ihre von Altersflecken übersäten Hände zupften zielsicher so viel von der Leichenblume, bis ihr mitgebrachtes Weidenkörbchen halb voll war. Darüber legte sie behutsam, um nur kein Blütenköpfchen zu beschädigen, ein Baumwolltuch. Ein weiteres Mal beugte sie sich hinab, pflückte jetzt jedoch kunterbunte Wiesenblumen, die sie über das Tuch schichtete. Zu einem Sträußchen gebunden würden sie sich wieder hübsch auf ihrem Tisch machen.

      Die stämmige Esther Friedrichsen liebte den Herbst. Wenn die Natur noch einmal so richtig schön bunt wurde und die Herbstsonne ihr mit Falten durchzogenes Gesicht erwärmte, fühlte sie sich jung. So jung, wie man sich eben mit 83 Jahren noch fühlen konnte.

      Aber sie liebte auch den Frühling, denn jede Jahreszeit brachte so ihre eigenen Pflänzchen zum Vorschein; im Frühling war es der Löwenzahn, den Esther Friedrichsen sammelte. Seine Kräfte galten bei Leber-, Nieren- und Gallenleiden als besonders hilfreich. Gerade alte Menschen hatten mit ihren Nieren ja so ihre Problemchen. Im Sommer begann dann die Zeit der Kamille. Das Gute an Kamille war, dass sie sich in ihrer Donnerstagsmischung überaus gut machte. Die beruhigenden und entkrampfenden Wirkstoffe taten jedem gut.

      Einen Augenblick dachte Esther Friedrichsen darüber nach, ob sie dieses Jahr vielleicht etwas mehr von der Leichenblume pflücken sollte. Sie entschied jedoch, die Wiese morgen noch einmal aufzusuchen, wenn es ihre Beine denn erlaubten. Durch die Arthrose machten nämlich Esther Friedrichsens Beine gelegentlich nicht mehr das, was sie von ihnen erwartete. Das war natürlich an den Tagen besonders ärgerlich, an denen sie deswegen ihrem geregeltem Tagesablauf nur unter erschwerten Bedingungen nachgehen konnte. Manchmal waren selbst ein paar Meter eine Qual, aber seine Gebrechen konnte man sich nicht aussuchen. Ja, ja, nickte sie vor sich hin, die tapfere Martha hatte schon Recht gehabt mit dem, was sie einmal gesagt hatte; man musste mit dem arbeiten, was das Leben einem auferlegte.

      Wenn also nicht morgen, überlegte Esther weiter, dann vielleicht übermorgen oder überübermorgen. Wobei überübermorgen wiederum ein schlechter Tag war, um hierher zu kommen. An Beichttagen war es ihrer Meinung nach nicht angebracht, die Konzentration auf etwas anderes als auf den Herrn zu richten.

      Wie dem auch sei! Esther blieb gelassen. Die Leichenblume würde auch noch in der nächsten Woche blühen. Deswegen durfte man sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, das wäre reine Zeitverschwendung. Und dass ihr jemand zuvorkam und alles wegpflückte, erwartete sie ebenfalls nicht. Hier war so viel zu finden, damit hätte man glatt das gesamte Seniorenheim auslöschen können.

      Daran hatte Esther Friedrichsen aber freilich kein Interesse, empfand sie doch St. Benedikta samt seinen Bewohnern als überaus angenehm.

      Steif streckte sie ihre alten Glieder wieder in aufrechte Position und stemmte ihre Hände in die runden Hüften. Sie beugte sich einmal nach rechts und einmal nach links, um ihre Gelenke wieder zu lockern. Dann zog sie ihren fliederfarbenen geblümten Rock und die dazu passende Bluse zurecht. Flieder trug sie am liebsten. Diese Farbe meinte sie, wirke im Winter so gemütsbelebend, dass man sich an den Frühling erinnert fühlte. Im Sommer hingegen hatte diese Farbe so etwas leicht Kühlendes und Beruhigendes.

      Als alles wieder so saß, wie es sich gehörte, machte sie sich mit sorgsamen Schritten, ihren Schirm als Gehstock in der Hand haltend, querfeldein auf den Rückweg nach St. Benedikta.

      Idyllisch lag es da, das Altendomizil, in welchem sie ihre letzten Jahre, wie viele es auch noch sein mochten, genießen wollte. Dass sich gegenüber davon, auf der anderen Straßenseite, ein Friedhof befand, störte sie nicht. Menschen starben nun mal, und irgendwo mussten sie zur letzten Ruhe gebettet werden. Es störte Esther Friedrichsen ebenfalls nicht, dass hier auch Menschen begraben lagen, die von ihrer Teemischung getrunken hatten. Im Gegenteil, regelmäßig besuchte sie deren Gräber und wünschte den Herrschaften ihren wohlverdienten Frieden. Natürlich wünschte sie das den anderen, die hier lagen, auch, aber diese besondere Beziehung hatte sie eben nur zu ihren Teetrinkern.

      Angekommen in ihrem Zimmer, arrangierte Esther Friedrichsen die Wiesenblumen liebevoll in einer Vase und platzierte diese auf ihrem Couchtisch. Sie rutschte die Vase hin und her, solange, bis sie meinte, dass sie adäquat stand. Danach schaltete sie ihren kleinen Backofen an und legte das sich darin befindende Backblech bedächtig mit Papier aus. Sie breitete die gesammelten Blüten der Leichenblume darauf aus, wobei sie größte Sorgfalt walten ließ. Alle Blütenköpfe sahen in eine Richtung. Das Baumwolltuch, das gerade noch die Leichenblumen von den Wiesenblumen getrennt hatte, legte sie faltenfrei darüber, damit sich die verdampfende Feuchtigkeit darin sammeln konnte. So angerichtet, schob sie das Blech in den Ofen zurück. Die nächsten zwei bis drei Stunden würde es nun dauern, bis sie ihr getrocknetes Bukett abfüllen konnte.

      Sie hielt sich das Glas vor ihre Augen, um besser hineinsehen zu können. Es war wirklich an der Zeit gewesen, dass sie den Donnerstagstee, der so hieß, weil sie ihn nur donnerstags ausschenkte, auffüllen konnte. Der Bedarf bestand zwar nur hin und wieder, doch die Restkrümel, würden maximal noch Bauchschmerzen einbringen, was für den Donnerstagstee keinesfalls ausreichend war.

      Rein willkürlich schenkte sie ihren Tee allerdings nie aus, das wäre in ihren Augen nicht rechtens gewesen. Das tat sie nur, wenn es sich, wie sie glaubte, um einen hoffnungslosen Fall handelte. Und hoffnungslos war ein Fall nur, wenn der- oder diejenige von selbst nach Tee verlangte. Lediglich dann brühte sie ihre Mischung, mit diesen nur im Herbst blühenden Pflänzchen, auf. Hübsch sahen sie aus, wie Krokusse. Aber die pflückte sie nicht für heute Abend, schließlich war nicht Donnerstag, sondern Mittwoch. Und Mittwochabend fand die reguläre Teeparty statt. Jeden Mittwochabend, da war Esther Friedrichsen sehr akkurat. Später würde sie auch hierfür noch die Kräuter vorbereiten müssen, aber das hatte noch etwas Zeit.

      Um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben, schenkte sie ihren alten Beinen eine Pause und ließ sich, in Gesellschaft eines Buches, ächzend auf ihrer Couch nieder. Ihre geschwollenen Beine benötigten unbedingt etwas Ruhe. Auch ein kleines Nickerchen würde sicherlich nicht schaden.

      Als Seniorin konnte sie sich das durchaus erlauben. Und solange es ihre regelmäßigen Beschäftigungen nicht beeinträchtigte, gönnte sie sich das auch.

       6. Kapitel

      Wie die meisten Bewohner des Seniorenheims St. Benedikta, war auch Esther Friedrichsen eine Seniorin mit Gewohnheiten. Und diese Regelmäßigkeiten hatte sie vor, bis zu ihrem Lebensende weiterhin so zu handhaben.

      Jeden ungeraden Samstag im Monat ging sie zur Beichte. Den ersten und dritten Freitagnachmittag ließ sie sich deswegen auch die Haare legen. So konnte sie am Samstagmorgen mit frisch gewickeltem Haar auf die Straße hinaustreten, diese überqueren,